Kantianischer Suizid

Ein Kantianer rechtfertigt seine Selbsttötung

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwar bringt sich auch in der heutigen Spaßgesellschaft wohl kaum jemand aus einer momentanen Laune heraus um. Zuvor aber auf das Genauste die Philosophie, der man folgt, zu befragen, würde einem potentiellen Suizidanten wohl ebenso wenig in den Sinn kommen. Im Königsberg des Jahres 1800 war das allerdings anders. Damals war ein unglücklicher Kantianer, der aus dem Leben scheiden wollte, der Auffassung, dass Wünsche allein nicht zum Handeln berechtigen. Er, dem "die kantische Philosophie in ihrem ganzen innern Gliederbau erwiesen" war, stellte sich und seiner Philosophie also die Frage: "Ist mir der freywillige Tod erlaubt?" Was aber, fügt er sogleich an, "wenn die kritische Philosophie schon über die Aufgabe entschieden hätte, die ich noch in Untersuchung zu ziehen entschlossen bin? Wenn selbst der große Urheber dieser Philosophie schon über die Unsittlichkeit des freywilligen Todes gesprochen hätte? - Das Letztere ist freylich geschehen, aber ich wage zu behaupten, daß das Erstere noch zu erwarten ist." Der unbekannte Suizidant hatte also den Mut, der Kantischen Aufforderung Folge zu leisten und sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, die Kritische Philosophie und Kants Argument gegen den Suizid einer Überprüfung zu unterziehen, sie als falsch zu verwerfen. Das Ergebnis seiner Überlegungen hat er niedergeschrieben. Es wurde 1800, offenbar nach dem Suizid des Verfassers, von Bernhard Georg unter dem Titel "Vorbereitungen eines Unglücklichen zum freywilligen Tode" herausgegeben. Das war der Kantforschung zwar bekannt, das Buch selbst jedoch war verschollen und sein Inhalt unbekannt.

Dass der Text nun zur Verfügung steht, ist Yvonne Unna zu verdanken, die ein Exemplar des Buches in der Berliner Staatsbibliothek entdeckte und es in photomechanischem Nachdruck neu herausgegeben hat. Somit "wird der Kantforschung nach fast zweihundert Jahren ein bisher für unauffindbar gehaltenes Stück der Kantliteratur wieder zugänglich", sagt sie in der Einleitung nicht ohne berechtigten Stolz. Sie hat dem Text eine knappe, aber gelungene Zusammenfassung der Haltung Kants zur Frage des Suizids und der kantianisch argumentierenden Kritik des Verfassers an ihr vorangestellt. Beide unterzieht Unna, die sich mit ihrer Dissertation in die Thematik eingeschrieben hat, einer kritischen Überprüfung und kommt zu dem Ergebnis, dass die Einwände, die der Verfasser gegen Kant vorbringt, nicht stichhaltig sind. Damit glaubt sie allerdings keinen Schlussstrich unter eine erst noch ausstehende Auseinandersetzung gezogen zu haben. Vielmehr sieht sie "Sinn und Zweck der Veröffentlichung" gerade darin, "einen ersten Anstoß für die erneute Debatte" um das Suizidverbot zu geben, in dem sie zu Recht eine "bisher in der Kantforschung vernachlässigte, aber zentrale Frage der kantischen Ethik" ausmacht.

Titelbild

Bernhard Georg (Hg.): Vorbereitungen eines Unglücklichen zum freywilligen Tode. Aus des Verfassers Papieren herausgegeben. (Königsberg 1800). Mit einer Einleitung zum Nackdruck von Yvonne Unna.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2000.
113 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-10: 348711139X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch