Kontrollwahn und simuliertes Leben

Sonja Rudorfs Kitsch- und Psycho-Roman "Die zweite Haut"

Von Charlotte BrombachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Charlotte Brombach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über das hippe Leben, das man so führen muss, wenn man als Figur zwischen die Deckel eines jener Bücher geraten will, mit denen die um die 30-Jährigen einen Hit nach dem anderen landen, ist Verena längst hinweg. Wenn Verena in Clubs geht, hat das etwas Zwanghaftes. Da wird auch nicht einfach so, der Coolness halber, durch die nächtliche Großstadt geschlendert, da gibt's kein Berlin. In Sonja Rudorfs Debüt müssen es die Figuren schon in Frankfurt am Main aushalten. Es sind auch nicht unbedingt die 90er oder die Nuller-Jahre, keiner bewegt sich in irgendwelchen neuesten Szenen, man hört durchaus noch handgemachte Rockmusik und Tina Turner, sagt "Bluejeans", studiert in Wohnheimen vor sich hin und verabredet sich samstags auf dem Flohmarkt am Mainufer.

Kontrollwahn ist es, was Verena antreibt. Eine besondere Form des Vampirismus, die Suche nach der Wiederaneignung von Gefühlen im Zeitalter ihrer fernsehtechnischen Reproduzierbarkeit. Doch mit Phänomenen wie Big Brother hat das nichts zu tun, keine Rede von den Psycho-Sex-Offenbarungen in den nachmittäglichen Talkshows: Kitschromane, Softpornos und die "Marlboro-Freiheit" sind es, die in "Die zweite Haut" den Traumhorizont vor- und den Ton angeben: "Ein milder Wind wehte die Strähnen ihres halblangen, welligen Haares ins Gesicht". Und kurz darauf: "Als sich der Schlüssel ins Schloss der Haustür schob und mit einem leichten Knacken eineinhalb Umdrehungen nach rechts ruckte, fühlte Verena ihren Pulsschlag im Hals. Es war Mitternacht, sie stand vor einer fremden Reihenhaustür und sah einem Unbekannten zu, wie er sie öffnete. Dahinter Dunkel. Alles konnte passieren, wie immer. Und wie immer ahnte der junge Mann, der im Flur verschwand, nichts."

Was Jochen, dieser junge Mann, und Maischa, Markus, Paul, Silke und Inge, die von Sonja Rudorf in siebzehn Kapiteln zu einem Reigen arrangiert werden, nicht ahnen, ist, dass sie Teil eines Experiments sind. Verena geht es um Energietransfer, das Aufladen ihres leer gelaufenen Gefühlsreservoirs: "Den ganzen Tag hatte sie sich wie tot gefühlt, die Müdigkeit drückte auf die Augendeckel. Sie wusste, dass sie wieder in der Phase war, in der man es ihr ansah." Um Zugriff auf anderer Leute Gefühle zu bekommen, die sie dann in sich aufsaugt, um endlich wieder etwas spüren zu können, versucht sie, möglichst effektiv in das Privatleben dieser Menschen zu gelangen. Wenn es sein muss, auch ins Bett.

Nachdem Abenteuer und selbst definierte Identität in letzter Zeit vermehrt im Virtuellen gesucht wurden, geht hier eine Frau den schwierigen Weg zurück zum lebenden Objekt. Zweckorientiert, sachlich, mit Kosten-Nutzen-Rechnung im Kopf, aber hoffnungslos romantisch auf der Suche nach "echten" Gefühlen. Allein im Zimmer der fremden Person sammelt sie deren Memorabilien, "materialisiertes Fremdleben", und probiert, die damit verbundenen Gefühle später daheim beim Blick in den Spiegel nachzuvollziehen. Vor dem Leben kommt die Simulation des Lebens. Und wirklich an sich heran lässt Verena nur ihre Kuscheltiere.

Sonja Rudorf zieht die Schrauben von Kapitel zu Kapitel immer stärker an, spielt systematisch Konstellationen durch, bis klar wird: funktionieren kann Verenas Strategie nur mit Roland, "Mister Roland Perfekt", dem karrierehungrigen Rechtsanwalt, der selbst ein Partnerwahl-Konzept mit strengen Regeln verfolgt. Er sucht per Anzeige eine Frau, mit der er sich sehen lassen kann. Über die in Frage kommenden Kandidatinnen legt er erst einmal ein Dossier an.

Wie die Rechnung zwischen Verena und Roland aufgeht, wie hier ein fein austariertes Machtspiel und ein pragmatischer Pakt vor so etwas wie Liebe gesetzt werden, wie sich der Stromkreis zwischen den beiden Gefühls-Rechnern dann auf Seite 197 schließt und etwas Neues generiert, wie aus dem äußerlichen Paar womöglich ein tatsächliches wird, das ist gut ausgetüftelt und nicht unspannend zu lesen - wenn man solch aufwändig konstruierte Geschichten mag. Wirklich vordringen in Verenas Gefühlshaushalt, selbst vampiristisch aktiv werden möchte man beim Lesen allerdings kaum. Der Erzählstil schafft eine große Distanz zur Figur: "Die zweite Haut" ist unter einer dicken und ungebrochenen Sprach-Oberfläche aus Kitschroman- und Psycho-Ratgeber-Versatzstücken versteckt. Die Tragik des dargestellten Frauenlebens und der eigene Ton der 34-jährigen Frankfurter Autorin blitzen nur an wenigen Stellen auf.

Titelbild

Sonja Rudorf: Die zweite Haut.
Rotbuch Verlag, Hamburg 2000.
209 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3434530533

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