Jenseits der Malerei

Holger Lund analysiert erstmals Max Ernsts Collagenromane insgesamt

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Holger Lund untersucht in seiner Stuttgarter Dissertation die drei berühmten surrealistischen Collagenromane von Max Ernst (1891 - 1976): "Le femme 100 têtes" (von 1929), "Rêve d'une petite fille qui voulut entrer au carmel" (1930) und "Une semaine de bonté ou Les sept éléments capitaux" (1934). Dass er tatsächlich der Erste zu sein scheint, der diese Romane als narrative Gebilde in ihrem sequentiellen Zusammenhang analysiert und nicht in Einzelbildbetrachtungen auflöst, kann angesichts des Ruhms, den die drei Werke genießen, erstaunen. Vielleicht wirkt hier das Vorurteil nach, dass diese surrealistischen, traumartig auftretenden Produktionen prinzipiell rätselhaft, hermetisch, unausdeutbar und nicht interpretierbar seien. Aus ihrem dieser Art in Frage gestellten Zusammenhang gelöst, werden gelegentlich einzelne Collagen in Ausstellungen gezeigt und in Aufsätzen besprochen.

Eine interdisziplinäre Arbeit, die Bilder und Texte integrativ analysiert, gab es bis dato nicht, Lund betritt hier also mit seiner Untersuchung Neuland. Er nähert sich den drei Collagenromanen schematisch: einer Übersicht zur sequentiellen Ordnung der Romane folgen jeweils eine Skizze des Dargestellten, Beobachtungen zum äußeren Aufbau der Romanelemente und zu einzelnen Motiven und Themen, sowie abschließend eine Beschreibung der inkohärenzstiftenden Verfahren.

Seine Analysen im ersten Teil der Arbeit bilanziert Lund wie folgt: 1) Entgegen landläufiger Meinung führen die Untersuchungen zu erkenntnisfördernden Interpretationen, die Collagenromane sind semantisch sinnvoll interpretierbare Produkte eines intellektuellen Spiels zwischen Autor und Rezipient. 2) Ihr sequentieller Zusammenhang muss gegen die Abschirmungsbemühungen des Autors unter Rekurs auf die historische Tradition sequentieller Darstellung herausgearbeitet werden. 3) Die Collagen sind in keinem Fall Illustrationen des Textes ("Une semaine" enthält ja auch gar keinen Text), sondern die Narration stiftende Instanz, zu der der eher lyrisch zu nennende Text in den beiden ersten Collagenromanen komplementär hinzutritt. 4) Das Verhältnis zum Surrealismus ist ambivalent: Einerseits haben die Romane an der Absicht der surrealistischen Bewegung teil, zentrale Werte der bürgerlichen Gesellschaft zu attackieren ("pour ruiner les idées de famille, de patrie, de religion", wie sich Breton ausdrückte); andererseits ironisieren oder parodieren sie bestimmte Vorhaben der Bewegung, etwa die spiritistischen Seáncen der Frühzeit, die propagierte "Revolution surréaliste" und die anvisierte neue Mythologie.

Im zweiten Teil der Arbeit wird das Verhältnis zur Tradition sowohl der bildlichen Collage, als auch der Gattung Roman und des sequentiellen Erzählens in Text und Bild (mit einem Schwerpunkt auf Callot, Hogarth, Goya, Grandville, Doré) untersucht, mit gelegentlichen Seitenblicken auf die surrealistischen Filme von Buñuel oder auf andere Bildergeschichtenerzähler. Wenig überraschend ist die Feststellung eines in keinem Fall unproblematischen Verhältnisses zur Tradition. Die traditionelle Collage wird bei Max Ernst durch die Einbindung in eine sequentielle Darstellung narrativ erweitert, die traditionelle Erzählung des Romans durch den surrealistischen Angriff auf die rationalistische Ordnung des Diskurses destruiert. Lund hält Ernsts collagierten Angriff auf die narrative Ordnung der tradierten Erzählmuster für radikaler als die Prosa- und Filmexperimente von Breton, Aragon oder Buñuel. "Wie sehr und wie erfolgreich Max Ernst mit den Collagenromanen die erzählerische Ordnung angreift, belegt nicht zuletzt die Forschungsgeschichte - die erzählerischen Sequenzen in den Collagenromanen sind bislang unbemerkt geblieben. Das zeigt zugleich, daß mit den Collagenromanen ein Endpunkt erreicht ist: Weiter läßt sich der Kampf gegen die erzählerische Ordnung nicht treiben, soll der Kampf selbst noch erkennbar sein", meint Lund.

Der zitierte Satz ist ein Beispiel für die Art, wie bei Lund generalisierende Sätze aus den Beobachtungen am Material abgeleitet werden: Plakativ in der Formulierung, kaum noch an die Analyse angebunden und im Grunde nichtssagend. Anderes Beispiel: "mit den Collagenromanen wird sich die Gattung [der primären Bildergeschichte], durch ihre parodistische Deformation, ihrer selbst bewußt". Handelt es sich nicht vielmehr darum, dass Max Ernst unter Bezug auf die traditionelle Bildergeschichte eine Gattung sui generis schuf? Und seit wann können Dinge sich ihrer selbst bewusst werden?

Dergleichen manierierte Sprechblasen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ergebnisse der Untersuchungen Lunds relativ schlicht und unsensationell sind, wie er selbst anmerkt. Dass sein Buch gleichwohl für einige Zeit den Rang eines Standardwerks behaupten wird können, liegt daran, dass Lund es dankenswerterweise überhaupt einmal unternommen hat, die drei Collagenromane insgesamt in den Blick zu nehmen. Was ihre kontextuelle Situierung und spezifisch ästhetische Leistung angeht, dazu wird sich noch Differenzierteres sagen lassen. Dafür allerdings wird sich der im Analyseteil verborgene Kommentar als vorläufig unverzichtbar erweisen.

Das Buch enthält einen gut zweihundertseitigen Anhang, in dem unter anderem die Collagenromane vollständig, und dazu viele Bezugs- und Vergleichsbilder, ,abgedruckt' sein sollen... In Wahrheit werden aber allenfalls Schemen der Bilder gegeben. Die Abbildungsqualität ist derart erbärmlich, dass man sich schon fragt, ob man auf die Bilder nicht genauso gut hätte verzichten können. Dabei war es wahrscheinlich als Clou des Buchs gedacht, die Collagenromane tatsächlich einmal integral vorzuführen. Dafür fehlte es jedoch im Hause Aisthesis entschieden an verlegerischem Ethos.

Kein Bild

Holger Lund: Angriff auf die erzählerische Ordnung. Die Collagenromane Max Ernsts.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2000.
530 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3895282936

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