Entzauberter böser Blick

Eine Studie entkräftet den Kältevorwurf an Thomas Manns Werk

Von Melanie OttenbreitRSS-Newsfeed neuer Artikel von Melanie Ottenbreit

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thomas Mann ist nicht immer nett zu seinen Literaturgeschöpfen gewesen. Schon gar nicht zu denen, die nur am Rand seiner frühen Romane und Novellen auftraten oder denen, die lebendige Vorbilder hatten.

Für die Figur Detlef Spinell im "Tristan" lieh sich Thomas Mann Züge des Schriftstellers Arthur Holitscher, der es wenig schmeichelhaft fand, als "verwester Säugling" auf zu großen Füßen zum Gespött der Mitpatienten im Sanatorium Einfried geworden zu sein. Und Gerhard Hauptmann, der für den Kaffeehändler Mynheer Peeperkorn im "Zauberberg" unfreiwillig Modell stand, war bekanntlich auch nicht amüsiert, sich selbst auf so verzerrte Weise dargestellt zu sehen und in einem Luftkurort an einer Überdosis exotischer Gifte sterben zu müssen.

Die derart Überzeichneten waren zu Recht erbost, als Karikatur vom übergenauen, bösartigen Blick Thomas Manns entstellt. Doch auch der "kalte Künstler", wie Kollegen und Wissenschaftler Thomas Mann deshalb nannten, fühlte sich verkannt. Interpreten legten einen Pauschalfluch über sein Œuvre, der Thomas Manns Absichten so wenig gerecht wurde wie die spitzen Zeichnungen aus seiner Feder den Menschen hinter den Porträts.

Wolfgang Schneiders Studie "Lebensfreundlichkeit und Pessimismus. Die Figurendarstellung Thomas Manns", die als Dissertation bei Hans-Jürgen Schings an der Freien Universität Berlin entstand, räumt nun mit so manchem, unhaltbaren Vorwurf auf. Für Schneider liegt der Fehler früherer Forschungsarbeiten darin, die Figuren Thomas Manns "lediglich als Problemträger analysiert" zu haben: "Daß die literarische Figur mehr ist als der in sie eingegangene problematische Gehalt, mit dessen Hilfe sie profiliert wird, dafür fehlt vielen Untersuchungen der Sinn."

Thomas Mann selbst bestand darauf, dass sein Werk "lebensfreundlich ist, obwohl es vom Tode weiß". Hundertfach hat er diese Äußerung in Tagebüchern, Briefen, Reden und Essays wiederholt. Schneider wirft der Forschung vor, "die naheliegende Fragestellung, inwiefern sich die von Thomas Mann so nachdrücklich proklamierte Menschenfreundlichkeit in der Figurendarstellung seiner Werke wiederfinden läßt", vernachlässigt zu haben. Figuren sind dargestellte Menschen, und gerade uneingeweihten Lesern erschließt sich das Werk Thomas Manns über die Sympathie zum literarischen Personal. Diese Sympathie komme aber nicht aus bloßer Leserneigung zustande, sondern ist für Schneider die "eigentliche Leistung des Erzählens". Sympathische und plastische Figuren geschaffen zu haben, ist ein Verdienst Thomas Manns, das wissenschaftlich bisher zu wenig gewürdigt wurde.

Die anregende Analyse Wolfgang Schneiders holt hier Versäumtes nach: Sie untersucht die Menschendarstellung Thomas Manns auf das ",Programm' der Menschen- und Lebensfreundlichkeit". Dabei setzt sich Schneider gerade nicht dem Vorwurf aus, die "doppelte Optik" nicht berücksichtigt zu haben. Er leistet vielmehr das, was Interpretationen vermissen lassen, die "bei der theoretischen Erörterung des ,Problems' schnell die gestaltete Figur aus dem Blick" verloren haben. Sein Studie nimmt aber ebenso wenig die Hauptfiguren in den Blick, die sich wie Thomas und Hanno Buddenbrook, Tonio Kröger, Hans Castorp und Joseph der Sympathie des Autors ohnehin gewiss waren. Sein Augenmerk gilt den Nebenfiguren, den Nicht-Erwählten, denen Reinhard Baumgart 1966 mit Ausnahme von Tony Buddenbrook und Rahel die "klassische Fallhöhe" absprach, weil er sie für "schicksalslos" hielt, "ohne Aussicht auf Katastrophe oder Bewährung".

Beginnend bei "Tonio Kröger" analysiert Schneider die Entwicklung Thomas Manns "auf dem Weg zur ,Menschenfreundlichkeit'". Schopenhauers "Pessimismus" ist ihm dabei permanenter Bezugspunkt, als Teil des Problemfelds "Lebensfreundlichkeit". Die Leistung Schneiders zeigt sich gerade in den Detailstudien zum "Zauberberg" und zu "Joseph und seine Brüder". Bei der Tetralogie arbeitet er anhand von sieben Nebenfiguren, darunter Laban, Potiphar und Mont-kaw, die sympathische, gerade nicht entlarvend kalte Darstellungsweise Thomas Manns heraus. Er attestiert ihm damit eine Entwicklung zur "Menschenfreundlichkeit" in deutlicher Absetzung von der Figurendarstellung im Frühwerk.

Die Figuren des reifen Thomas Mann sind Menschen aus Fleisch und Blut, die immer noch ihre Schwächen haben, die sie aber umso menschlicher machen. Ihre Defekte und Schnurren werden nicht mehr mit bösem Blick seziert. Im Gegenteil. Als lebendigen Individuen widerfährt ihnen etwa im "Joseph" gerade im Vergleich zur biblischen Vorlage Gerechtigkeit, weil der Roman ihnen eine persönliche Würde verleiht, wo sich die Bibel ohne eine Beschreibung von Charaktermerkmalen begnügt. Mit der Ehrung seiner Nebenfiguren aber wird Thomas Mann selbst rehabilitiert, sein Gesamtwerk war zu Unrecht dem Vorwurf entlarvender Kälte ausgesetzt.

Titelbild

Wolfgang Schneider: Lebensfreundlichkeit und Pessimismus. Thomas-Mann-Studien 19.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt 1999.
498 Seiten, 65,40 EUR.
ISBN-10: 3465027930

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