Verkannt und nie da gewesen

Ilya Kabakov präsentiert Charles Rosenthal

Von Alexander MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Meine Phantasie beginnt mich allmählich zu langweilen. Ich würde gerne zur Darstellung der Wirklichkeit zurückkehren, sie berühren, wie dies Courbet und insbesondere mein Ideal Géricault taten... Die neuen Künstler haben sich von der Darstellung der alten realistischen Schule für immer verabschiedet. Zu Unrecht. Es kann nur darum gehen, im ,neuen' Bild den richtigen Platz für sie zu finden." Aus einem Brief C. Rosenthals an I. Kantor am 3. 4. 1923.

Das ist vielleicht wahr, aber erfunden ist es dennoch. Es handelt sich nämlich um ein Teilstück der so genannten "Totalinstallation" von Ilya Kabakov, die zu Beginn dieses Jahres im Frankfurter Städel zu sehen war. Knapp 90 Werke hat er, selbst Träger zahlreicher renommierter Auszeichnungen, für seinen fiktiven und verkannten Künstler Charles Rosenthal in den Jahren 1997 - 2000 auf Long Island geschaffen, um mit ihnen eine posthume Retrospektive auszustatten. Hinzu kommt vermeintlich dokumentarisches Material, Tagebuchaufzeichnungen, nicht abgeschickte Briefe an die geliebte Busja, Fotografien, eine Biografie. In der Konzeption dieser Installation beschreibt Kabakov den Sinn der Werkschau eines Künstlers, der nie existiert hat. Er bestehe in der Möglichkeit, "das Gesamtwerk eines Künstlers gleichsam aus der Distanz zu betrachten und seine wichtigsten Ideen offenzulegen, und dies aus der Perspektive einer anderen Zeit mit ihrem entsprechenden historischen Kontext, worauf ein wirklicher Künstler, 'innerhalb' seiner Ideen und in seiner 'realen' Zeit lebend, selbstverständlich nicht hoffen darf." Letztendlich geht es Kabakov stets um die Bewahrung und Wiederbelebung der Vergangenheit, um ein "lebendiges, zurückholendes Gedächtnis", ein Anspruch, der kaum besser als von seiner Installation "Monument to a Lost Civilization" (ein Gemeinschaftsprojekt mit seiner Frau Emilia) repräsentiert werden könnte: der Plan eines Museums des gesamten Lebens in der ehemaligen Sowjetunion.

Der historische Kontext bezüglich Charles Rosenthals zeichnet sich nun konkret durch die aufkommenden europäischen und russischen Avantgardebewegungen und die weltgeschichtlichen Ereignisse aus, die in Rosenthals Lebenszeit fallen, die übrigens mit einem tragischen Unfall im Geburtsjahr Kabakovs endet. 1933 stirbt Rosenthal unter den Rädern eines außer Kontrolle geratenen Autos auf dem Montmartre, während im September desselben Jahres Ilya Jossifovitch Kabakov in Dnjepropetrovsk (Ukraine) zur Welt kommt. Die Werkschau des Künstlers wird zur Reflexion des angeblichen Kurators.

In sechs Räumen zeichnet Kabakov die Stadien eines künstlerischen Lebens nach. Jedem Raum bzw. Kapitel werden bestimmte Probleme zugeordnet und Themenschwerpunkte Rosenthals. Zentral erscheint die Auseinandersetzung mit dem Suprematismus Malewitschs in Verbindung mit der eigenen Hinwendung zum Realismus. Rosenthal begeistert sich für die Theorie seines Lehrers, kann sich ihr in der Praxis aber nicht vollkommen anschließen. Sein Ideal, das einen eigentümlichen Gegenpol zu Malewitsch bildet, ist der romantische Maler Théodore Géricault. In der Gestaltung von Géricaults pathetischem Meisterwerk "Floß der Medusa" - man denke aber auch an dessen eindrückliche Porträts von Insassen einer Pariser Nervenheilanstalt - sieht er ein der Geometrisierung und Abstraktion des Suprematismus entgegengesetztes Ziel, die Darstellung der Wirklichkeit, auch wenn es sich bei der von Rosenthal eingefangenen Realität um eine Umgebung handelt, die er längst verlassen hat - eben das sozialistische Russland. So verbinden sich in Rosenthals Schaffen Realismus und Abstraktion. Letztlich bereitet es ihm Schwierigkeiten, das Weiß der Leinwand völlig auszufüllen. Seine Arbeiten erscheinen als ein Kampf gegen dieses Weiß, das ihn blendet. Allein zwei großformatige Gemälde, die den "Westen" und den "Osten" symbolisieren, vermeiden die Leerstelle. Dafür tritt die Kunstform der Installation in den Vordergrund, so dass Kabakov augenzwinkernd in Rosenthal seinen eigenen Vorläufer entworfen hat. Denn diese Gemälde werden durch bestimmte Text- und Lichtverknüpfungen ergänzt. Einzelne Schalter ermöglichen es dem Betrachter, ein hinter dem Bild befindliches Licht zu aktivieren und gleichzeitig eine dazu entsprechende Erzählung zu lesen. Beim "Westen", symbolisiert in der "Park Bennett Auktion" im London von 1931, einer Überhöhung von Kunst als Kommerz, kann man beispielsweise den Gedanken der einzelnen Besucher der Auktion folgen. Letztendlich betrachtet Rosenthal sein Werk dennoch als nicht abgeschlossen. Sein Versuch einer Rekonstruktion aus Fragmenten ist zum Scheitern verurteilt. Das Weiß der Leinwand wird im späteren Schaffen Rosenthals immer dominanter, so dass sich im letzten Abschnitt strahlend helle Bilder finden, auf denen gerade noch die dünne, aber groß angelegte Skizze eines realistischen Gemäldes zu erkennen ist. Zu der Frage, ob diese letzten Arbeiten als unabgeschlossen zu gelten haben, liefert Kabakov widersprüchliche Interpretationsansätze. Einzig sicher scheint, dass die Kunstgeschichte wohl anders verlaufen wäre, wenn Rosenthal die gebührende Aufmerksamkeit und Anerkennung des Fachpublikums zu Lebzeiten zuteil geworden wäre.

In dem sorgfältig edierten Katalog mit einer sehr guten Auswahl des Bildmaterials - allein bedauerlich, dass etwa zu 'Auktion' nur ein Aquarell und einige Rahmen- und Text-Entwürfe wiedergegeben werden - lässt sich Rosenthals Leben und Œuvre nachvollziehen. Kabakovs Zeit- und Kunstkritik vermittelt sich vorwiegend durch die beigefügten Texte, sowohl durch die fiktiven Aufzeichnungen Rosenthals und seiner Rezeption als auch durch Kabakovs konzise Installationsbeschreibung. Eine knappe, zum Teil amüsante Übersicht über Leben und Werk von Kabakov, einschließlich einer umfassenden Auswahl seiner Einzel- und Gruppenausstellungen, schließt den Band würdig ab.

Titelbild

Ilya Kabakov: Leben und Werk von Charles Rosenthal 1898-1933.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M.und Basel 2000.
120 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3878777809

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch