Das verfluchte Porto!

Eine philologische Großtat: Friedrich Hebbels Briefwechsel neu ediert

Von Ludger LütkehausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ludger Lütkehaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Fünf starke Bände! Wir glauben nichts zu riskieren, wenn wir demjenigen, der beweisen kann, dass er sie ausgelesen hat, ohne als Rezensent dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen versprechen." So ungefähr könnte eine von der Deutschen Post oder irgendeinem anderen brieffeindlichen Unternehmen gesponserte Besprechung der Wesselburener Ausgabe des Briefwechsels Friedrich Hebbels beginnen. Rezensent, hätte sich Hebbels berüchtigte Kritik von Adalbert Stifters "Nachsommer" geringfügig modifiziert zu Eigen gemacht, wohl wissend, dass die Krone von Polen seinerzeit eine der heikelsten Versprechungen war.

Der Sponsor wiederum, der sich vor kurzem erneut anschickte - wiewohl ihm das höheren Orts gottlob schließlich verwehrt wurde -, "das verfluchte Porto" (Friedrich Hebbel) wieder auf die prohibitiven Sätze des 19., ja des 18. Jahrhunderts anzuheben, im Stile eines damit einst reich gewordenen bayerischen Fürstengeschlechts, dürfte endlich triumphieren. Nach der Verdrängung der Briefliteratur durch das Telephon und ihrer bloß scheinbaren Wiederbelebung durch die elektronischen Abfallkörbe von Fax und E-Mail wäre er jedenfalls auf besten Wegen, seiner tief verwurzelten Abneigung gegen den Briefverkehr weiteren Ausdruck zu geben.

Doch da unsereins nicht von der Deutschen Post gesponsert wird, fällt die Besprechung ganz anders aus. Sie ist voll des Lobes. Sie rühmt eine philologische und literarhistorische Großtat. Ja sie freut sich geradezu, dass die - entgegen anders lautenden Urteilen - bedeutende Korrespondenz eines großen, wiewohl heute weitgehend vernachlässigten Dichters endlich umfassend und in zuverlässiger Form, dazu vorzüglich kommentiert und registermäßig erschlossen, zu lesen ist.

Die neue Edition präsentiert Hebbel und seine Briefpartner mit 320 bisher unbekannten von insgesamt fast 3000 Stücken in der heute überhaupt erreichbaren Vollständigkeit, die freilich nie endgültig sein kann. "Im Buch", so die prägnante, von Walter Benjamin her inspirierte Formel des Mitherausgebers Hermann Knebel, "findet die Welt nur als 'gerettete? Platz." Die Hegel'sche "Furie des Verschwindens" hat sich bereits in der Maxime des Hebbel-Bruders Johann vor allen weiteren Nachlassverwaltern inkarniert: "Mein Bruder verbrennt meine Briefe und sagt: ich erhalte ja immer welche wieder!"

Auf dem Gebiet der Hebbel-Briefphilologie, die in den letzten Jahrzehnten mit etlichen Vorarbeiten seit der ersten historisch-kritischen Edition durch Richard Maria Werner am meisten in Bewegung geraten ist, hat die Ausgabe auf absehbare Zeit die Summe gezogen. Aber lohnt denn das überhaupt, "Friedrich Hebbel?" Ja. Friedrich Hebbel, geboren 1813 zu Wesselburen, gestorben 1863 zu Wien, beigesetzt im historischen und theatralischen Museum.

Der Dichterdenker Hebbel hat mit der ihm eigenen Reflektiertheit selbstverständlich auch in seinen Briefen über seine Briefe und den Brief als literarische Gattung nachgedacht. "Schattenrisse der Seele" nennt er mit einem öfters zitierten Wort seine Briefe; aber um die Metapher recht zu verstehen, muss man das Zitat aus seinem Brief an Charlotte Rousseau vom 27. Juli 1841 ungekürzt zur Kenntnis nehmen: "Briefe sind nun einmal Schattenrisse der Seele und die meinigen sind Schatten von Schatten. Ich bin im Leben gar nicht ein so mißgestimmtes Instrument und gebe oft genug einen lustigen oder muthwilligen Ton. Aber dem Papier gegenüber werde ich selbst in den besten Stunden sogleich ein Anderer und meine Gedanken nehmen die Farbe meiner Dinte an. Dies kommt daher, weil ich, statt mich in die Welt zu verbreiten, immer in mein Inneres hinab steige."

"Ich ist ein Anderer", so dieser norddeutsche Rimbaud, "Schatten von Schatten" in "Dinte" malend - die Reise geht, wie Hermann Knebel in einem vorzüglichen Essay des Hebbel-Jahrbuchs 1999 vermerkt, "ins Herz der Finsternis", "in die Finsternis des Herzens."

Die Farbe der "Dinte" ist dabei keineswegs bedeutungslos: Schwarz war sie zumeist, wie es sich gehört, dann hat Hebbels Freund und Nachlassverwalter Felix Bamberg sie, um den verehrten Meister zu schonen, mit lila Tinte und Blaustift öfters ausgekringelt und übermalt - was den heutigen Herausgebern immerhin gestattet, die Schichten zu sondern und die Eingriffe so zuverlässig wie möglich rückgängig zu machen.

Bamberg war nicht just das "Lama" Friedrich Nietzsches, dessen zupackende Fälschungen diesen anderen Archiv-Weimaraner gemäß dem editorischen Willen zur Macht zurechtschusterten, aber doch ein - zweifellos wohlmeinender - Zensor. Die neue Ausgabe hat in der Fortsetzung und größtmöglichen Vollendung der Arbeit Richard Maria Werners einen unzensierten Hebbel erbracht.

Hebbel wird durch die unverkürzte, ungeschönte Ausgabe des Briefwechsels nicht eben "sympathischer"; aber eigentlich "sympathisch" war er noch nie - wenn man ihm dieses Allerweltsattribut der hemmungslos kommunikativen Gesellschaft abfordern will. Das Auftrumpfen, die bramarbasierende akademische und soziale Großmannssucht, die Karriere vom "Paria" zum "Parvenü" (Hannah Arendt), die den Sohn kleinster und ärmster Verhältnisse, den Freitischstipendiaten auf dem alltäglichen Gang zur "Hinrichtung seines inneren Menschen", den Not leidenden Deutschlandwanderer und frierenden Mansardenbewohner die Nähe zu Titeln und Rängen und Höfen, zu Wohlstand, Sicherheit und Reputation suchen ließ, das alles wird, nicht zuletzt dank der unerschrockenen Herausgeberkommentare, deutlicher denn je.

Die Härte, ja Brutalität, mit der Hebbel Menschen behandeln konnte, die ihn bewunderten, verehrten, liebten, am bewegendsten seine Geliebte Elise Lensing, die Mutter seiner zwei unehelichen Söhne, zeigt sich ungemildert. Nach seiner Selbstcharakterisierung war er ein "Menschenfresser", der einen verzehrenden Umgang mit den ihm Ergebenen pflegte. Sein erster Biograph Emil Kuh, sein jüngerer Freund Sigmund Engländer erfuhren das. Das Monomane, Obsessive, Monologische an ihm, das sich am deutlichsten - und eindrucksvollsten - in seinem eigentlichen Hauptwerk, den Tagebüchern ausdrückt, tritt auch in den Briefen, dieser "Mittelstufe zwischen Monolog und Produktion", trotz des dialogischen Charakters der Gattung kaum zurück. Eher wird es gerade im Briefwechsel, den diese Edition mit ihren 1500 Briefen von Hebbel, 1400 an ihn, gegen die editorischen Usancen der Genieästhetik nun endlich bietet, nur umso massiver spürbar.

Nein, auch der Briefautor Hebbel nimmt wenig Rücksichten, am wenigsten der junge Hebbel, bevor ihn die Wiener Parvenüexistenz zivilisiert. Seine inneren "Eingeweide Würmer" - so das degoutante, authentische briefliche Bild - ringeln sich munter vor den vertrautesten Adressaten, die mit einer Art von "geistigem Erbrechen" konfrontiert werden. Und wenn Hebbel sich seinerseits den Menschen zuwendet, dann oft genug mit dem beobachtenden Blick des Zoologen, der die "Käfer" humani generis studiert.

Aber darin kann man auch einen wahreren, ungeschönten, lebendigeren Hebbel entdecken, weiter denn je entfernt von der gelegentlich marmornen Starre seiner klassizistischen Dramen und, wo er bramarbasiert, nicht im hohen chauvinistischen Nibelungenton. Ihn kann man nun besser denn je verstehen, auch im Sinne der Gleichung von "comprendre" und "pardonner", "verstehen" und "verzeihen". Zuviel verlangt wäre es von ihm, dass er nach den Wunden nicht auch die Narben seiner Geschichte zeigen sollte. Was jetzt noch aussteht, ist eine Hebbel-Biographie auf dem Stande einer Forschung, die nach dem methodischen Overkill, den Glasperlenspielen der dekonstruktivistischen Postmoderne in der Postpostmoderne für existentielle Fragen wieder offen ist.

Wo Hebbel aber nach der Niederlassung in Wien und den fruchtbaren Konfusionen der Revolution von 1848 "objektiv" wird und sich auf die Geschichte konzentriert; wo er "vom Monolog zum Dialog" konvertierte, vom "Ich zur Welt, von der Introspektion zur Deskription, von der Reflexion zum Realismus" (Hermann Knebel), wenn man im Widerspruch zu den geologischen Verwerfungen seiner Biographie so schematisieren darf, da umfasst diese Korrespondenz mit ihren rund 400 Briefpartnern aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten auch "die ganze sociale und politische Welt." Mit diesem Anspruch begründet Hebbel ein halbes Jahr vor seinem Tod in einem Brief an den Verleger Julius Campe den Wunsch nach einer umfassenden, die "Correspondenz" wie die "Tagebuch Aufzeichnungen" einschließenden Nachlassedition. Die Kompromisse aber, die Hebbels Theaterchristentum, seine Anpassung an den restaurativen Staat und die nobilitierte bourgeoise Gesellschaft von Besitz und Bildung am Ende schließt, bekommt in den Briefen die Folie und auch die Korrektur, die sie verdienen. Kein völlig neuer Hebbel ist das, aber einer, der vital und widersprüchlich genug ist, um sich aus dem literarhistorischen und theatergeschichtlichen Mausoleum zu befreien. Wer hätte das gedacht: Philologie als Wiederbelebungshilfe.

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Friedrich Hebbel: Briefwechsel 1829-1863. Historisch-kritische Ausgabe in fünf Bänden. Wesselburener Ausgabe.
Herausgegeben von Otfried Ehrismann, Henry U. Gerlach, Günter Häntzschel, Hermann Knebel, Hargen Thomsen.
Iudicium Verlag, München 1999.
3920 Seiten, 99,99 EUR.

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