Der unsagbare Teil der Literatur

Thomas Göller über Sprache, Literatur und kulturellen Kontext

Von Waldemar FrommRSS-Newsfeed neuer Artikel von Waldemar Fromm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die jüngste Publikation von Thomas Göller "Sprache, Literatur, kultureller Kontext" reicht fünf Studien nach, die unmittelbar an das im Jahr 2000 erschienene Werk "Kulturverstehen - Grundprobleme einer epistemologischen Theorie der Kulturalität und kulturellen Erkenntnis" anschließen. Der Autor untersucht in dem neuen Buch u. a. die Rolle des Kontextes für das Verständnis von Literatur und Kultur und versucht, das Primat des Kontextes vor dem Text bei der Interpretation literarischer Texte einer kritischen Prüfung zu unterziehen.

Göller vertritt den methodischen Ansatz einer sinnentfaltenden Hermeneutik. Ausgangspunkt seiner Fragestellung sind Studien zur interkulturellen Germanistik, in denen eine vorrangige Beachtung kultureller Kontexte bei der Lektüre fremder Texte präferiert wird. Kulturdifferente Lektüren müssen, so Göller, vom Primat der Ästhetizität literarischer Texte ausgehen. Der Autor entwirft im Anschluss an diese Eingangsbedingung ein eigenes Begriffsinstrumentarium, mit dem er den Zusammenhang von Text und Kontext erfassen will. Texte können sich auf sich selbst oder einen Kontext beziehen, diese zweifache Textreferenz nennt er Auto- bzw. Heteroreferenz. Er nimmt an, dass es eine spezifisch literarische Art der Autoreferenz gibt, von der auch die Heteroreferenz abhängt. Literarische Texte bringen etwas zur Sprache, was nur in ihnen mitgeteilt werden kann. Sie sind durch ihre Selbstbezüglichkeit gekennzeichnet, in der das, was gesagt wird, notwendig mit dem Wie des Gesagten zusammenhängt.

Vor der Frage nach dem Kontext stellt der Autor die Frage nach der Art und Weise der Verbindung von sprachlichen Zeichen im Text. Die textimmanenten Zusammenhänge haben bei ihm Priorität vor den Kontexten. Kontexte sind im Rezeptionsprozess immer eine Folge eines vorgegebenen sprachlichen Gewebes. Ein solcherart definierter Text behauptet seine ästhetische Eigenständigkeit in gewisser Weise durch sein Thema und die dadurch notwendig gewordene Sprachverwendung. Die "Singularität" oder auch "Individualität" des literarischen Textes besteht darin, dass er wiederholt auf neue Kontexte bezogen werden kann, ohne seine Individualität zu verlieren.

Göller grenzt für die Sprachverwendung überhaupt drei Funktionen voneinander ab: die diskursive, die intuitive und die instrumentelle Funktion. Nun ist bei ihm Literatur nur insofern Literatur, als sie eine "intuitive", in der Studie auch "symbolisch" oder "indirekt" genannte Redeweise favorisiert. In Anlehnung an Kants "ästhetische Ideen" und dessen Ansichten zur symbolischen Darstellung - die Göller mit Cassirer liest - zeigt er, dass die literarische Sprachverwendung auf dem beruht, was innerhalb der diskursiven oder instrumentellen Sprachverwendungen nicht sagbar ist. Literatur holt Unsagbares in den Bereich der Imagination und lässt es dadurch anschaulich werden. Das Unsagbare wird damit zu einer kalkulierbaren Kategorie.

Gemeint ist mit dem Unsagbaren nicht eine individuelle Erfahrung oder ein Gefühl, das sich, wie z. B. in der Literatur des Sturm und Drang, nur schwer semantisieren oder kodifizieren lassen will, sondern etwas prinzipiell Unsagbares. Prinzipiell unsagbar ist potentiell alles, was sich den diskursiven und instrumentellen Sprachverwendungsweisen entzieht. Man vermutet als Leser nicht ohne berechtigten Grund, dass Göller in Passagen zum Unsagbaren eine ins Hermeneutische gewendete Diskursanalyse Foucault'scher Prägung vorschwebt. Das Unsagbare wäre dann die der hermeneutischen Erfahrung geöffnete Dimension des Anderen.

Am Beispiel von Franz Kafkas "Ein Bericht für eine Akademie" zeigt Göller exemplarisch die Umsetzung seines Ansatzes auf. Er versteht den "Bericht" als Metapher für den literarischen Schaffensprozess und lokalisiert den individuellen, "ästhetischen Textsinn" in der Gegensätzlichkeit von Mensch-, Sprach- und Künstlerwerdung. Unsagbar, also ästhetisch, symbolisch oder indirekt dargestellt, sind darin zwei Zustände: der Naturzustand des Affen Rotpeter (und damit verbunden der eigentliche Zweck des Berichtes) und der Verwandlungsprozess des Affen. Das innertextliche Geschehen bildet die Unsagbarkeit des Schöpfungsprozesses nach, den Kontext dazu liefern die Geniekonzeption von Kant sowie die ästhetischen Ansätze von Schopenhauer und Nietzsche über den Zusammenhang von Rausch und Kunst. Auch wenn Göller im Einzelnen sehr bemüht ist, den "Bericht" plausibel auf seine immanenten poetologischen Reflexionen hin zu lesen - die tatsächlich vorhanden sind -, erkennt man doch bald, dass er die Semantik seiner Begriffe nicht ernst genug nimmt, oder anders gewendet: Göller zieht nicht die Konsequenzen aus seiner Ansicht über die Radikalität moderner Literatur im Fall Kafkas. Das Unsagbare ist das wichtigste Thema des "Berichts", mit einem allegorisierenden Lektüreverfahren ist der Text aber um seine entscheidende Provokation verkürzt: das Unsagbare. Um nur ein Beispiel zu zitieren: Das Varieté wird als Sinnbild für den nicht aussagbaren Schöpfungsaugenblick verstanden, wenn es aber ein Sinnbild wird, dann war der Schöpfungsakt nie unsagbar. Die Lektüreweise Göllers löst sich in eine konventionelle Lesart auf, wie sie lange Zeit üblich war - wenn man die Arbeiten aus den 60er und 70er Jahren bedenkt, Kafkas Poetik im Zusammenhang mit Schopenhauer und Nietzsche zu verstehen.

Göller liefert eine philosophische Analyse der Zusammenhänge von Text und Kontext. Sein Vorgehen hat gegenüber manchem literaturwissenschaftlichen Ansatz den Vorteil einer klaren und einfachen und in jedem Punkt nachvollziehbaren Gedankenführung. Es bereichert die gegenwärtige Diskussion um die Bezüge zwischen Ethik und Ästhetik beispielsweise in einem Kapitel über Literatur und Menschenrechte oder mit den Überlegungen zum Problem des Übersetzens. Der Blick von außen auf die Literatur hält für Literaturwissenschaftler aber auch manche Überraschungen bereit. Die Debatte um "Kultur als Text" erledigt sich für den Autor wie nebenbei in einer Anmerkung: Womit du nicht präzise arbeiten kannst, das sollst du fallen lassen, scheint sein Credo zu sein. Der Autor berücksichtigt mitunter wichtige literaturwissenschaftliche Stichworte nicht. So ist sein Textbegriff unbeeindruckt geblieben von der Diskussion um das offene Kunstwerk und die Auflösung des Werkbegriffs. Man vermisst auch die Auseinandersetzung mit literatur- oder kulturwissenschaftlich wichtigen Arbeiten etwa von Jean-François Lyotard oder Hans Blumenberg, die beide Maßgebliches zum Thema Literatur und Unsagbarkeit formuliert haben. Blumenberg hat sich in den Texten zur Metaphorologie ausführlich mit den literarischen und philosophischen Situationen beschäftigt, in denen der semantische Dienstwert der Sprache versagt. Lyotard greift wie Göller auf Kants Ästhetik zurück, um speziell für die Ästhetik des Erhabenen eine (auch physische) Kunsterfahrung in der Avantgarde geltend zu machen, die auf Undarstellbares hinweisen will. Strukturanalog zum Erhabenen beschäftigt sich Lyotard im "Widerstreit" auch unter sprachlichen Gesichtspunkten mit dem Thema, beispielsweise, wenn er über das Schweigen reflektiert, das negativ festhält, was sich der Semantisierung (noch) entzieht.

Blumenberg und Lyotard weisen von unterschiedlichen methodologischen Standpunkten aus auf ästhetische Ereignisse hin, in denen sich das Sagbare in der Sprache aus einer wechselseitigen Bezogenheit von Konkretion und Entzug ausbildet. Sprache erscheint darin als eigenständige Gestaltungskraft. Lyotard hat darin ein Gefühl des "Unbestimmten" lokalisiert, das zum Prozess der Rezeption von Literatur und Kunst gehört. Thomas Göller hätte sich mutiger der Provokation dieses Unbestimmten in der Literatur- und Kunsterfahrung stellen können.


Titelbild

Thomas Göller: Sprache, Literatur, kultureller Kontext. Studien zur Kulturwissenschaft und Literaturästhetik.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2001.
182 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3826020316

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