Was bleibt, ist Verwirrung

Ingo Niermann experimentiert in seinem ersten Roman "Der Effekt" mit Sätzen

Von Natalie ReutlingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalie Reutlinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf den ersten Blick drängt sich die Vermutung auf, man habe einen Kriminalroman vor sich liegen. Eine Leiche und eine Freundin, die versucht, die Todesumstände zu klären. Es folgt bald die zweite Leiche - und auch diese bleibt nicht die letzte.

Doch einen Kriminalroman mit logisch aufeinander folgenden Lösungshäppchen und einer zentralen Frage nach Täter bzw. Motiv scheint Ingo Niermann nicht zu intendieren. Im Gegenteil: stattdessen entwickelt er in seinem Roman "Der Effekt" ein schier unentwirrbares Beziehungsgeflecht aus diversen Haupt- und Nebenhandlungen, als wolle er dem Leser Raum für kühnste Interpretationsmöglichkeiten lassen. Doch die Kriminalhandlung verliert sich.

Der Roman ist in zwei Teile gegliedert, deren Anordnung nicht der chronologischen Reihenfolge entspricht. Im ersten Teil, den der Autor "Gerade" nennt, ist der Protagonist Julius schon nicht mehr am Leben. Rebecca, seine Mitbewohnerin und Freundin, findet ihn nach einer Party tot im Bad liegend auf. Der zweite Teil, "Gleich", schildert einige Tage seines Lebens. Da dieser aber nicht mit Julius' Tod endet, bleibt unklar, wieviel Zeit zwischen den beiden Teilen liegt.

In "Gerade" führt Rebeccas Aufklärungsbedürfnis sie zu weiteren Freunden von Julius. Mit ihnen hat er die letzten Tage verbracht und mit ihnen verbringt Rebecca die Tage nach dem Tod ihres Freundes. Doch die Frage nach den Todesumständen scheint nun sehr schnell an Bedeutung zu verlieren, es wird kein direktes Wort darüber verloren. Es sind ihre Erinnerungen, die Julius lebendig halten, doch zahlreiche Lebens- und Beziehungsgeschichten verschleiern den Blick auf Julius. Man folgt falschen Spuren, verliert sich zwischen belanglosen Details und hofft vergeblich auf Erklärungen. So bleibt etwa die Frage ungeklärt, was Julius eigentlich war: ob homo-, hetero- oder bisexuell. "Selbstverliebt, aber heterosexuell." Mit diesem lapidaren Satz versucht Rebecca Julius' sexuelle Orientierung zu erklären. Gleichwohl geht Julius auch mit Männern ins Bett und bezeichnet sich zudem noch als "Stricher". Niermann lässt bewusst alle Figuren des Romans in ihrer sexuellen Orientierungslosigkeit. Sie scheinen nur darauf zu warten, sich jederzeit neuen Spiel-Partnern zuwenden zu können. So findet man nahezu sämtliche Figuren in einer sexuellen Beziehung mit einer anderen wieder.

Niermanns Roman erinnert an den frühen Peter Handke, den der "Linkshändigen Frau". Die Figuren unterhalten sich, aber sie reden aneinander vorbei. Sie schlafen miteinander, sie teilen sich die Wohnung, aber sie wollen füreinander keine Verantwortung übernehmen. Sie leben in den Tag hinein, gehen gern auf Parties, sie experimentieren mit Drogen und Alkohol. Die Figuren wollen "eindeutig" sein, entziehen sich aber jeder Bestimmung, schrecken sie doch vor jeder Form von Abhängigkeit zurück. Julius zum Beispiel hat geradezu panische Angst davor, Vater zu werden. Gleichwohl geht er das Risiko ein, mit Rebecca und Chris zu schlafen, von denen eine es darauf abgesehen hat, von ihm schwanger zu werden.

Das Kapitel "Der Turm" enthält eine Metapher auf die Gesellschaft: Im Menschenturm versuchen die, die unten sind, nach oben zu kommen, während die, die schon oben sind, versuchen, die Nachdrängenden abzuschütteln. Einige haben sich auch schon in der Mitte eingerichtet, mit der Gewissheit, dass die, die oben sind, bald stürzen werden. Bei Revolutionen, heißt es weiter, verwandelt sich der Mensch in Gott: "Im gleichen Augenblick, da er zur Gottheit aufstieg, wurde er so töricht, hinabzusteigen und etwas zu bearbeiten, das seine Pracht vielleicht nie oder in weiter Zukunft entfaltete." Doch die hier dargestellten Figuren wollen weder Karriere machen, noch fügen sie sich in die Gesellschaft ein. Es ist überhaupt unklar, was sie am Leben hält. Julius gibt an einer Stelle zu erkennen, dass er "verletzlich" sei, vielleicht ein Grund für den Schutzwall, den er um sich herum errichtet hat.

Ingo Niermanns erster Roman "Der Effekt" ist außerordentlich spröde erzählt; streng genommen kommt Niermann an keiner Stelle ins Erzählen: er produziert Sätze, Dialoge, stiftet auch ab und an Zusammenhänge zwischen ihnen. Somit wirkt seine Prosa gekünstelt, steif und ungewohnt. Die Dialoge sind distanziert, kühl, sie funktionieren als Dialoge, doch im Kontext der Erzählung funktionieren sie nicht. Sie tragen nicht zur Aufklärung des Rätsels bei, das sich zwischen den Ereignissen stellt. Der Leser verliert sehr schnell die Lust, nach dem Sinn der undurchdringlichen und sperrigen Sätze zu forschen.

Das streng paritätisch in zwei Teile gegliedert Buch enthält in jedem Teilbuch zwölf Kapitel. Viele Kapitel haben ähnliche Benennungen, wie etwa: "Die Wohnung" und "Die Straße" (Kapitel 4 und 7 in "Gerade") entsprechen "Das Zimmer" (Kapitel 4 und 7 "Gleich"). Dieser Aufbau suggeriert eine hohe Systematik der Komposition, von der infrage steht, ob sie vom Roman wirklich eingelöst wird. Auch bleibt offen, was diese "Spiegelung" im Aufbau bedeutet.

Niermanns Roman wirkt wie eine Versuchsanordnung, wie ein Experiment, aber er bestätigt das Vorurteil gegen die jungen deutschen Erzähler, dass sie ihre Geschichten kaum vermitteln können und zu wenig an den Leser denken.

Titelbild

Ingo Niermann: Der Effekt. Roman.
Berlin Verlag, Berlin 2001.
194 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3827001331

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