Keine Dienstleistung für Literaturtouristen

Harold Bloom versucht sich mit seiner "Kunst der Lektüre" als Leserfänger

Von Anette MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anette Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wie und warum wir lesen sollten" lautet der Untertitel von Harold Blooms Streifzug durch die Weltliteratur - eine Frage, die uns Bloom, der weltberühmte Literaturwissenschaftler ("Einflussangst") mit eindrucksvollen wissenschaftlichen Stationen (Yale - New York University - Stanford), schon im Vorwort beantwortet: man folgt am besten seinen eigenen Gewohnheiten, und man sollte lesen, weil es uns an unser "wahres Selbst" heranführt. Bleibt die Frage: Was sollte man lesen?

Bloom beantwortet sie, indem er auf knappem Raum für unterschiedlich prominente Werke der Weltliteratur eintritt, die er einem älteren Gattungskanon zuordnet. Er stellt Gedichte von Blake neben Lyrik von Milton und Keats, präsentiert Kurzgeschichten von Hemingway und Tschechow, analysiert Romane von Austen, Dickens und Morrison sowie Theaterstücke von Ibsen und Wilde, in der Hoffnung, seine Leser neugierig zu machen. Blooms Absichten sind ehrenwert, gerade in einer Zeit, in der wir ständig und überall von Informationen bis zur Orientierungslosigkeit überflutet werden.

Der amerikanische Literaturwissenschaftler möchte zum Lesen anstiften, ohne jedoch zum Dienstleister für den "gemeinen Literaturtouristen" zu werden, der womöglich auf eine schnelle und benutzerfreundliche Instantfassung von Dostojewskijs "Schuld und Sühne" hofft, auf eine Lesehilfe à la Reader´s Digest.

Überfluten will er uns nicht, im Gegenteil: Bloom möchte uns seinen persönlichen Kanon vermitteln und uns, wenn er Shakespeares "Hamlet" liest, seine eigene Faszination vor Augen führen. Dieser Versuch mag nicht unbedingt bei allen von ihm behandelten Werken überzeugen, spricht jedoch für die Gewissenhaftigkeit des Autors und verdeutlicht mit jedem Beispiel mehr, welcher Zauber von den großen Werken der Weltliteratur ausgehen kann, auch wenn man seiner Interpretation nicht immer zustimmen mag und Bloom die Text-Auswahl sehr knapp hält. Er wendet sich nicht nur an diejenigen, die ohnehin lesen, sondern möchte gerade jene erreichen, für die der Griff zum Buch selten geworden ist. Er spricht mit seinem Buch daher nicht primär die akademische Leserschaft an und kommt weitgehend ohne literaturwissenschaftlichen Fachjargon aus.

Dies hat freilich die Nebenwirkung, dass sich seine "Kunst der Lektüre" wie eine Einführung in die Weltliteratur für Erstsemester liest. Auch erwecken seine Ausführungen zu manchen Textbeispielen den Eindruck, der Autor eile von Beispiel zu Beispiel, beseelt von dem Wunsch möglichst viele Werke darzustellen, um dann lediglich an der Oberfläche der Texte zu bleiben, während er anderen kanonischen Texten wie den Kurzgeschichten von Tschechow oder einem Proust-Roman fünf oder mehr Seiten widmet, was für alle Beispiele wünschenswert gewesen wäre.

Bloom konzentriert sich in seiner Analyse auf Charaktere, Situationen und sprachliche Aspekte, ohne sich bei den in der englischsprachigen Literaturkritik so in Mode gekommenen, miteinander konkurrierenden Literaturtheorien anzubiedern, die ihre Existenzberechtigung haben mögen, in einem solchen Überblick aber fehl am Platz wären.

Trotz Blooms' altmodischer und eigensinniger Art an Texte heranzugehen, weckt er im Leser den Wunsch, sich noch unbekanntes Terrain zu erschließen oder bereits Vertrautes neu zu lesen. Während es Bloom versteht, vom Reiz des Lesens zu erzählen, so vermag sein Kanon, der materiale ebenso wie der interpretatorische, nicht ganz zu überzeugen. Die Gültigkeit seiner Auswahl und teils auch seiner Analyse bleibt fraglich, gerade weil Bloom selbst sich gegen jene Institutionen ausspricht, die dem Leser eine obligatorische Leseliste und eine unfehlbare Analyse zu diktieren suchen. Sein Plädoyer für das Lesen von Literatur ist zweifelsohne leidenschaftlich und gerade im Hinblick auf die ständige Bedrohung durch das Triviale sicher nötig, aber "Die Kunst der Lektüre" könnte ohne weiteres auch den Titel "Lieblingswerke von Harold Bloom" tragen. Auch Blooms Gestus, "volksnah" zu sein, kann nicht wirklich überzeugen - dafür kommen seine Ausführungen zu belehrend daher.

So kann dieses Buch, trotz der zur Schau getragenen Anspruchslosigkeit, den Ehrgeiz seines Verfassers nicht verhehlen, und ist am Ende doch nicht mehr als eine Anregung. Man möchte Bloom auf ein Zitat Virginia Woolfs aus seinem eigenen Vorwort hinweisen: "Der einzige Rat nämlich, den ein Mensch einem anderen in puncto Lesen geben kann, ist der, auf keinen Rat zu hören."

Titelbild

Harold Bloom: Die Kunst der Lektüre.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Angelika Schweikhart.
C. Bertelsmann Verlag, München 2000.
314 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 3570003345

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