Literatur als "Supratheorie"

Über Bettina Grubers Mentalitätsgeschichte des Okkultismus

Von Bernd HamacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Hamacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spätestens um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert setzt ein Ringen um die Diskursherrschaft über jene Teile der menschlichen Kultur ein, die über den Horizont des alltäglichen Lebens hinaus- oder in diesen hineinragen und als unbegriffene Phänomene in Form von Ganzheitsbegriffen wie Liebe, Seele oder Tod das nicht reduzierte Ganze im emphatischen Sinne, das Absolute also, bezeichnen. Bekannt ist, dass das religiöse Interpretationsmonopol für Transzendenz im Zuge von Aufklärung und Säkularisation bis zum Ende des 18. Jahrhunderts an Anerkennung verlor.

Trat zunächst die idealistische Philosophie mit dem Anspruch auf den Plan, durch eine gedankliche Durchdringung dieses Absoluten die Kantische Begrenzung der Erkenntnis auf die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung zu überwinden, so wurde diese philosophische Ganzheitskonzeption aus ihrer eigenen Mitte heraus schon bald entweder revidiert oder aber - etwa beim späten Schelling - in eine philosophische Religion reintegriert. Die Zukunft schien dagegen der entstehenden modernen Naturwissenschaft zu gehören, die durch Experiment und Erfahrung den kulturellen Horizont immer weiter nach draußen verschob, bis er Bereiche umfasste, die noch wenige Jahrzehnte zuvor ganz unbefragt der Transzendenz zugerechnet worden waren. Sobald 'Erfahrungsbelege' für die Existenz eines Jenseits erbracht zu sein schienen, wurde dieses Jenseits zum Diesseits, weil menschlicher Erkenntnis unterworfen. Als Platzhalter für die noch nicht vermessenen und kartographierten Bezirke der Welt trat die Literatur ein, die sich - wie etwa die Entwicklung der Naturmetaphorik im 19. Jahrhundert zeigt - in einem stetigen Rückzug vor dem unaufhaltsamen Fortschritt der Wissenschaften zu befinden schien.

Bettina Grubers Bochumer Habilitationsschrift über Justinus Kerners 1829 publizierte "Seherin von Prevorst. Eröffnungen über das innere Leben des Menschen und über das Hereinragen einer Geisterwelt in die unsere" nimmt mit der okkultistischen Rede ein Textkorpus in den Blick, das sich - als "Interdiskurs" - genau am Kreuzungspunkt der Diskurse befindet und dessen Zuordnung zu den diskursiven Systemen von Religion, Wissenschaft und Literatur schon unter den Zeitgenossen strittig war. Von Kerners Intention her sollte die Erforschung des menschlichen Innenlebens "nicht psychologische Introspektion, sondern religiös-gewissenhafte Innenschau" bedeuten und daher zur Erkenntnis "einer übergreifenden göttlichen Ordnung der Natur" führen. In Freuds Terminologie würde im somnambulen Zustand nicht das "Unbewusste", sondern das "Über-Ich" zum Tragen kommen. Hier gelingt es der Verfasserin, das wissenschaftsgeschichtliche Klischee von der "Entdeckung des Unbewussten vor Freud" überzeugend zu widerlegen, waren doch die okkultistischen Anschauungen "Theorien der 'Verdrängung', nicht der Entdeckung des Unbewussten".

Die von Gruber beigebrachten "Kommentare aus dem Religionssystem" belegen freilich, dass dieser "Objektivitätsanspruch in transzendenten Dingen" von den offiziellen Vertretern der Religion nicht zugelassen werden konnte. Was der Religion zu Hilfe kommen wollte, drohte sie in Wahrheit in Wissenschaft aufzulösen, in eine "sich als physikalisch begreifende[] Welterklärungsstrategie, die als Supratheorie keine Lücken lassen darf". Damit aber wiederum ist ein Ganzheitskonzept ins Spiel gebracht, das sich experimentell prinzipiell nicht einlösen lässt. Dies zeigt Gruber auch daran, dass - entgegen der sich historisch durchsetzenden Vorstellung - die Patientin bei Kerner sich in einer Machtposition gegenüber dem Arzt befindet, und nicht umgekehrt. So wird die Wahrheit der Aussagen nicht an wissenschaftliche Verfahren gebunden, sondern an die Person des Autors, der seinerseits bloß "Zeuge", Beobachter "zweiter Ordnung" ist, wodurch seine Praxis "an die Totalitätsversprechen von Kunst und Religion" anschließbar wird.

Gerade in der "Offerte zum Wechsel der Kommunikationsperspektiven", in der Möglichkeit, die Systemreferenzen alternierend präsent zu halten und damit die funktionale Differenzierung der Moderne zu unterlaufen, sieht Gruber den Erfolgsfaktor der "Seherin" als Unterhaltungsliteratur, der sie durch kontrastierende Vergleiche mit Positionen Novalis', Goethes, Tiecks und Mörikes auch literaturgeschichtliches Profil zu verleihen vermag.

Grubers systemtheoretische Analyse des Okkultismus kommt in ihren materialreichen Hauptkapiteln ohne einschlägigen Jargon und begrifflichen Ballast aus, doch schiebt sie ein knappes methodisches Kapitel über "Okkultismus als Effekt von Systemdifferenzierung" nach, in dem das Vokabular erscheint, das Puristen und Luhmannianer vermisst haben mögen. Die Leitdifferenz des okkultistischen Diskurses sei demnach nicht "immanent/transzendent", wie in der Religion, auch nicht "wahr/falsch", wie in der Wissenschaft, sondern "interessant/uninteressant", wie (nach Plumpe/Werber, nicht nach Luhmann) in der Kunst. Den ästhetizistischen Aspekt konkretisiert Gruber anhand der spiritistischen Praxis Victor Hugos. Der Spiritismus erlaube durch die Erzeugung kontextloser Ereignisse, die nicht in den Deutungsrahmen der Kultur zu passen scheinen, an die aber "totalisierende Deutungen in Form von Theorien und Jenseitswünschen" herangetragen werden können, ein beliebiges "Wechselspiel der Schaffung von Ordnung und ihrer Destruktion".

Das letzte Kapitel der Arbeit untersucht die Wirkungsgeschichte des romantischen Okkultismus in C. G. Jungs Psychoanalyse und in der New Age-Bewegung, in denen das "Unbewusste" als "Fenster zur Transzendenz" erscheine und eine "konstruktivistische Religion" entstehen lasse, in der okkulte Phänomene rein ästhetisch, nämlich als "Möglichkeit von Sinnbildung" wahrgenommen würden.

Wenngleich die Arbeit dadurch in das zu enge Fazit auszulaufen droht, dass nicht nur Okkultismus als Literatur, sondern umgekehrt Literatur als Okkultismus zu beschreiben wäre, ist die von Gruber aufgezeigte funktionale Leistung der Literatur als eine Möglichkeit festzuhalten, die auch außerhalb des romantischen Okkultismus und seiner Rezeptionsgeschichte gilt. Nachdem die "Supratheorien" Religion, idealistische Philosophie und Physik die Diskursherrschaft verloren haben, mögen gegenwärtig noch Evolutionsbiologie im weiteren und Genetik im engeren Sinne das Feld behaupten. Grubers mikrologischer Blick auf die Entstehung solcher "Supratheorien" als Welterklärungsmodelle lässt jedoch ihre begrenzte Haltbarkeit prognostizierbar erscheinen und gibt erneut den Blick frei auf die irreduzible Platzhalterfunktion der Literatur, die allein das unreduzierte Ganze im emphatischen Sinne präsent und ungelöste Probleme offen hält. Beanspruchen andere Diskurse, wie die Wissenschaft, dasselbe, so erzeugen sie mit ihren Heilsversprechen ihrerseits nichts anderes als "elementare Literatur", ganz wie Justinus Kerner und seine "Seherin" Friederike Hauffe.

Titelbild

Bettina Gruber: Die Seherin von Prevorst. Romantischer Okkultismus als Religion, Wissenschaft und Literatur.
Schöningh Verlag, Paderborn 2000.
307 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 350673444X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch