Verstörung für den Bernhard-Leser

Peter Kahrs' rhetorische Lektüren früher Erzählungen

Von Judith SchneibergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Judith Schneiberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das literarische Werk Thomas Bernhards ist mit Grund Anlass schon vieler literaturwissenschaftlicher Studien geworden. Dennoch entdeckt Peter Kahrs in seiner Dissertation an ungeahnter Stelle unerobertes Land.

Thomas Bernhard hat es explizit zu einem der Hauptthemen seiner Schriften gemacht, Sprache als Machtinstrument zu begreifen, das immer mit verborgenen Intentionen operiert. So entfernt und verfälscht sie den Gegenstand der Rede, statt eine Annäherung an ihn zu ermöglichen. Sprache in Bernhards Werk umkreist stets das Verhältnis von Macht und Ohnmacht, wobei die Sprecher, die nur noch im verzweifelnden Sprechen existieren, zu Opfern ihrer eigenen Sprache werden.

Peter Kahrs ergreift die Chance, die offenen Tore einzurennen, an welchen andere vorbeigezogen sind - nämlich die Methodik der Dekonstruktion, die genau das besagt, was Bernhards Werk thematisch zugrunde liegt, auf jenes anzuwenden. Das zu vermitteln, macht sich Kahrs zu einer solch schweren Aufgabe, dass die Einführung in das Thema zur trockenen Wüstenwanderung für den Leser wird. Das Dekonstruktionsverfahren von Paul de Man wird in der Einleitung als Methode ausgewiesen, mit der in der Bernhard-Studie verfahren wird. De Mans dekonstruktivistische Theorie richtet sich auf Paradoxien, die im Doppelcharakter der Texte als logische und rhetorische Gebilde erzeugt werden. Der Geltungsanspruch des logischen Verfahrens des Textes wird immer wieder durch die figurative, uneigentliche Bedeutung, durch die Rhetorik der Sprache, zerstört. Bei literarischen Texten liegt die Dekonstruktion in der Natur der Sache. Dort wird mit Sprache eine vermeintliche "Realität" suggeriert, die in der Fiktion angesiedelt ist. Literarische Texte sind die verfeinertste und fortgeschrittenste Art der Dekonstruktion, Bernhards Texte, in dem Bewusstsein darüber, die vollkommene Zuspitzung davon.

Kahrs' Studie möchte weg von einer an Thomas Bernhards Werk zum Scheitern verurteilten hermeneutischen Interpretationsweise, hin zu einer dekonstruktivistischen, die das Verhältnis von Ästhetik und Rhetorik seiner Texte zu fassen vermag. Eine Anleitung und Erklärung für die Analyse des Stils und der Erzählweise der frühen Arbeiten Bernhards soll hinleiten zu den rhetorischen Textanalysen, die im Mittelpunkt der Studie stehen. Sie erarbeiten die sprachlichen Mittel, mit denen Bernhard die literarische Dekonstruktion entwirft.

Es bleibt fraglich, ob der Leser bis dahin nicht auf der Strecke bleibt, zumal er mit literaturtheoretischen Riesen zu kämpfen hat, um in das Gelobte Land der Bernhard'schen "antimimetischen Poetik der Künstlichkeit" Einzug zu halten. Und Honigschlecken ist auch der Hauptteil des Buches nicht, wenn auch die genauen Inhaltsangaben und die reichlichen Zitate aus Bernhards Erzählungen schon erfrischender und ergiebiger wirken.

Eine Dissertation eben, die sich eher an ein Fachpublikum wendet - eines, das noch nie auf die Idee gekommen ist, die Bedeutung der Bernhard'schen Texte nicht nur in einem handlungsbezogenen Inhalt zu suchen, sondern in der offensichtlichen Sprachartistik der Protagonisten, die jede Sinnsetzung seziert und begräbt.

Eine Dissertation, die Unmut und Verwunderung in jedem eine Universitätslaufbahn anstrebenden Thomas-Bernhard-Leser hervorrufen wird, der einfach davon ausgegangen ist, dass es wohl schon hunderte Dissertationen über diese Art des Bernhard'schen Textverständnisses gäbe. Was zuletzt auch bedeutet: Peter Kahrs' Buch ist ein erstaunlich wichtiges Buch.

Titelbild

Peter Kahrs: Thomas Bernhards frühe Erzählungen. Rhetorische Lektüren.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2000.
240 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 382601846X

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