Zu leben heißt, in Not zu sein

"Der Planet der Blinden" von Stephen Kuusisto

Von Alexandra HildebrandtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Hildebrandt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich stelle mir vor, daß es irgendwo da draußen einen Planeten mit Blinden gibt, auf dem man die Bildbeschreibung der Erde mithören kann. Und diese Blinden würden ihrerseits eigene beschreibende Signale zurücksenden. Wie wunderbar, sich vorzustellen, daß unser erster Kontakt mit intelligentem Leben in Wirklichkeit Kontakt mit blindem Leben wäre!" Diese Mitteilung ist eine der größten Überraschungen, die Stephen Kuusisto dem Leser bereitet. In seinem Universum der Blinden verschwindet die Gestalt und Ordnung der vertrauten, durchsichtigen Welt, weil es den Blick von der Grenze des Bedeutens, der Rationalität, des Verstehens ins Grenzenlose lenkt und andere Vorstellungen von Wirklichkeit ermöglicht.

Sein literarisches Debüt, das nicht so sehr hierarchischen Strukturen, sondern einer eher assoziativen Logik folgt, ist eine kunstvolle Sammlung von Fragmenten der Blindengeschichte seit der Antike: Der Bogen spannt sich von Teiresias über Helen Keller und Jorge Luis Borges bis zu Kuusistos finnischen Großvätern und dem blinden Schriftsteller selbst, der 1955 drei Monate zu früh in einem Krankenhaus in Neuengland geboren wurde. Sein Sehvermögen ist durch Überversorgung mit Sauerstoff im Brutkasten schwer geschädigt (Frühgeborenen-Retinopathie). "Im Alter von drei Jahren bekam ich meine erste Brille. Ich trug sie in den Garten und vergrub sie unter den großen Blättern einer Rhabarberpflanzen. [...] Was nur mußte ich tun, damit niemand meine Blindheit bemerkte?" So schildert Stephen Kuusisto, der heute eine Schule leitet, die sich auf die Unterstützung von blinden Studenten im Alltag spezialisiert hat, das Dilemma seiner Kindheit.

Wie John Metcalf, der britische Architekt und Straßenbauer des 19. Jahrhunderts, bewahrt er seine Blindheit als "persönliches Geheimnis". Davon handelt der erste Teil des Buches, in dem er sich selbst kühn als ein "nervenschwaches Paradoxon" beschreibt: behindert, manchmal bereit, darüber zu reden, aber noch immer so beschämt, daß er lieber "auf Nummer Sicher" geht. Er hat sein Leben darauf abgestimmt, als Sehender durchzugehen, als wäre Blindheit "ein Fetisch, eine perverse Schwäche", etwas, das er mit seiner Willenskraft überwinden könnte. So fährt er Fahrrad, spielt Basketball, mogelt sich durch eine "normale" Schule und erträgt die Demütigungen seiner Mitschüler. In der Schule huscht das gedruckte Wort vor seinem "Leseauge", auf dem er nur noch fünf Prozent Sehvermögen besitzt, davon; "Wörter kommen ihm vor wie Insekten, die aus einer Schachtel befreit worden sind", denn Nystagmus, eine zusätzliche Komplikation der Retinopathie, machte es ihm fast unmöglich, seinen Blick gezielt auf etwas zu richten. Beide Augäpfel zucken wie Pingpongbälle. Jahrelang stolpert er durch die Lehrjahre der höheren Bildung. Er erfährt sie als Wettrennen und hinkt stets einen Monat hinter der vorgegebenen Lektüre hinterher. Semester erscheinen ihm als zeitlich begrenzte Wettbewerbe: "Die Geschwindigkeit der Aneignung ist alles, was zählt. In diesem Wettrennen werden Sehbehinderte zu wilden Tieren reduziert. Bücher treiben an unseren ausgestreckten Fingern vorbei."

Ausgerechnet beim Lesen verletzt Kuusisto eines Tages sein linkes Auge, sein "Lese"-Auge, schwer: Aus dem Buch "Gleißendes Licht" von der amerikanischen Schriftstellerin Linda Gregg fällt ein rasiermesserscharfes Lesezeichen heraus, das ihn blendet. Bis zu diesem "Unfall", den man auch eine "Katharsis" nennen könnte, betrachtete er sich als eine romantische Märtyrergestalt, als halbblinden Poeten. Natürlich fehlen ihm die Worte für seine mißliche Lage. Kuusisto beschreibt, wie er sich die Haare vom Kopf, aus dem Bart und von der Brust reißt, wie er sich fett ißt, trinkt, raucht, und Drogen und Tabletten nimmt. "Ich empfinde keine Zuneigung zu meinem Leben", schreibt er spröde.

Die Poesie wird "vorerst" seine zuverlässigste Geliebte, der er sich "mit Hingabe und Ehrfurcht" nähert. Seine Liebe zu ihr steckt in jeder Zeile, offenbart sich in wiederkehrenden Motiven und Motivkomplexen, dem Rhythmus und nicht zuletzt in seiner geheimnisvollen Bildersprache, die den Leser aus dem Reich des Sehens hinausführt direkt auf den Planeten der Blinden. Er zitiert leidenschaftlich Zeilen von Robert Bly, Paul Celan, Robert Frost, Pablo Neruda, Charles Simic, Wallace Stevens, Thomas Wolfe und James Wright. Die lineare Form der Autobiographie wird durch diese ungewöhnlichen und unerwarteten Verknüpfungen, die zeigen, daß er der Anmut der Sprache teilhaftig ist, ständig aufgebrochen.

Im zweiten Teil ("Bewegung") des Buches wird beschrieben, wie Kuusisto langsam den Weg in die Blindheit eingeschlagen hat. Jahrzehnte vergehen, bis er seinen Blindenstock - der sein Vertrauen in die Menschheit vergrößert - auseinanderfaltet und Hilfe annimmt. Dieser Reifungsprozeß, der erst im Alter von 39 Jahren einsetzt, beginnt mit der Anschaffung eines Blindenhundes. Die Begegnung - das Blind date im wahrsten Sinnes des Wortes - mit Corky, einer gelben Labradorhündin, zeigt ihm, wie vielseitig das Leben sein kann. Er mobilisiert enorme Kräfte, entweder um die Schwierigkeiten des Lebens zu ertragen oder sie zu überwinden.

Seinen Mitmenschen, den sehenden wie den blinden, Hoffnung zu geben, ist eines der Ziele von Kuusisto, denn Dinge ereignen sich einfach, ob wir nun schwermütig oder optimistisch sind. "Aber es muß", faßt Kuusisto zusammen, "ausreichend Gründe für Optimismus und für das Gefühl geben, daß wir unser Leben meistern können."

Titelbild

Stephen Kuusisto: Der Planet der Blinden.
Blessing Verlag, München 1998.
256 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-10: 3896670735

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