Eine besondere Wirklichkeit

Über Gregor von Rezzoris "Kain. Das letzte Manuskript"

Von Frank HerlitschkaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Herlitschka

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gregor von Rezzori starb 1999. Wenn aber nach der Lektüre von das "Letzte Manuskript" nicht alles täuscht, lebt er in Wirklichkeit weiter. Und zwar in der einzigen Wirklichkeit, auf die es ihm zeitlebens ankam: in der literarischen Wirklichkeit. Denn nur diese besondere Wirklichkeit verbindet die Vergangenheit mit der Gegenwart sinnvoll; nur literarisch lässt sich das vorläufige Leben ergreifen. Und begreifen: "Verstehen Sie? - den Sinn, daß das doch alles so geschah, um gesagt zu werden - sie verstehen mich doch - oder? Den Sinn, daß es nie geschehen wäre, wenn ich's nicht sagte...".

Gregor von Rezzori ist trotz einer beeindruckenden Lebensspanne (1914-1999) und vieler Publikationen ein relativ unbekannter Autor - in Deutschland. In Italien, zum Beispiel, scheint das anders zu sein, wenn man dem sehr klugen Kommentar von Andrea Landolfi im Anschluss an das "Letzte Manuskript" Glauben schenken darf. Das hat wohl mit Vorurteilen gegen den Autor zu tun, wobei - natürlich! - nicht zwischen dem Menschen und dem Künstler unterschieden wurde. Eine ,leichte' Lebensart, die man Rezzori nachsagte, verträgt sich nicht mit dem Bild vom ,ernsten' Autor, der um sein Werk ringt. Ich hoffe nicht, dass das heute noch zutrifft, aber vor noch nicht allzu langer Zeit tat sich ein Schriftsteller in Deutschland sehr schwer, wenn er nicht sichtbar mit der Welt haderte. Ein Schriftsteller, dem es auch mal gut ging - unmöglich! Warum sollte jemand, der das Leben zu genießen versteht, schreiben? Nur dadurch, dass der Schriftsteller das Leben schwer nahm, konnte er auch literarisches Gewicht entwickeln. Aberwitzig, und absolut lächerlich, wenn es nicht so ernste Folgen hätte für die Literatur, für Autor und Leser. Denn ein kaum bekannter Autor findet nur wenige Leser; und dem Leser entgehen leicht gute Bücher. Rezzori jedenfalls hat man seine Leichtigkeit gerne als Leichtfertigkeit ausgelegt.

"Der Tod meines Bruders Abel" (1976) ist der Roman, an den "Kain. Das letzte Manuskript" anknüpft. Wenn auch nicht im Sinne einer Fortsetzung, vielmehr im Sinne einer Erweiterung, eines Zugewinns an Perspektiven. "Das letzte Manuskript" besitzt jedoch einen ganz eigenen Wert; meist überzeugt die Vielschichtigkeit, die Stimmenvielfalt, schließlich die Offenheit der literarischen Gestaltung. Manchmal stört der programmatische Charakter; nicht, weil dumm wäre, was die einzelnen Figuren zu sagen hätten, sondern weil einige Aussagen eine Spur zu plakativ geraten, wie Bekenntnisse im Poesiealbum: "Er ist mein literarisch erträumtes vollkommenes Ebenbild". Darüber kommt man aber hinweg...

Alles in allem überzeugt "Kain. Das letzte Manuskript" als eine spannende Sammlung von Motiven, Geschichtsskizzen und Reflexionen zum Thema Leben bzw. Literatur. Es ist ein literarisches (Versteck-)Spiel bei dem es immer darum geht, die Wahrheit über das eigene Leben zu finden. Die Figuren, ob im Zentrum oder an der Peripherie, müssen sich ständig beweisen und behaupten - gegenüber anderen wie gegenüber sich selbst. Sie sind sich ihrer eigenen Identität nicht sicher, ihnen fehlt das geistige Rückrad, "eine feste Struktur, eine Art Knochenbau". Die Vergangenheit dieser Figuren ist ein Sammelsurium von Erlebnissen, ohne dass sich daraus so etwas wie eine persönliche, unverwechselbare Geschichte geformt hätte. Stattdessen haben sie "in sich die Möglichkeit zu ungezählten Biographien". Die Vergangenheit bekommt so den Charakter einer Rohstoffsammlung, aus der sich bedient wird, um sich immer wieder selbst zu erfinden; zwischen Gegenwart und Vergangenheit herrscht ein produktiver (allerdings nie endender) Dialog um das wahre Ich, die verlässliche Identität. Immer wieder schalten die verschiedenen Erzähler plötzlich zwischen Gegenwart und Vergangenheit um, assoziativ, sich selbst (und den Leser) überraschend. Die Figuren sehen sich selbst auf den Grund, indem sie ihr Befremden über sich selbst Ausdruck verleihen. Alles ist in Bewegung, nichts ist sicher. Daraus ergibt sich eine Spannung, die durchaus in den Bann schlagen kann. "Das letzte Manuskript" ist dann nicht das Letzte, was man von Gregor von Rezzori gelesen haben will.

Titelbild

Gregor von Rezzori: Kain. Das letzte Manuskript.
C. Bertelsmann Verlag, München 2001.
224 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3570005151

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