Hinlegeorgasmus und Drauflegeorgasmus

Darstellung und Konzeption von Sexualität in der Darstellung in der DDR

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Zuge der "Bewältigung" der DDR-Literatur seit dem "Fall Christa Wolf" (1990) ist viel über das Verhältnis der DDR-Autoren zu ihrem Staat geschrieben worden. Genuine literarische Topoi sind in der Forschung weitgehend überlagert worden von Fragen der political correctness. Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer ist es Zeit, die DDR-Literatur nicht nur unter den Aspekten Dissidenz und Anpassung zu lesen.

Beth Linklater (Oxford) hat sich in ihrer Dissertation die Frage nach der Darstellung und Konzeption von Sexualität in der ostdeutschen Literatur seit 1968 gestellt. In einer kurzen Phase der Liberalisierung, die Erich Honecker 1971, nach der Ablösung Walter Ulbrichts, verkündete, scheint eine Literatur ohne Tabus möglich zu sein. Doch das "Tauwetter" hält nicht lange vor, zumal Sexualität als "subversives Thema" besetzt werden kann: Die "umfassenden Entfremdungserfahrungen" (Birgit Dahlke) erscheinen als Ausdruck einer gleichwohl patriarchalischen DDR-Gesellschaft, die ihr sozialistisches Ziel der Gleichstellung der Geschlechter noch immer verfehlt. Autorinnen, die jetzt auch die "Langeweile und Normierung in der Sexualität" (Doris Berger) beschreiben, die die Mechanik und das Ritual des Beischlafs analog zur politischen Kultur der DDR setzen, werden bald mit dem Begriff des "literarischen Feminismus" (Sascha Anderson) etikettiert, mit dem man sie bei der Stasi denunzieren kann.

Beth Linklater nimmt in ihrer Studie die Haltung einer feministischen Leserin ein und bezieht drei Grundpositionen: 1. Jedes Lesen erschaffe eine neue Bedeutung; 2. das "Lesen als Frau" sei eine grundsätzlich andere Erfahrung; 3. die Funktion des Autors/der Autorin habe einen hohen Stellenwert, weil "einem großen und breiten Panoptikum imaginierter Frauenfiguren [...] nur wenige imaginierende Frauen" gegenüberstehen (Silvia Bovenschen). Dabei ist es weniger relevant für Linklaters Untersuchung, ob ihre Hauptbezugsautoren (Irmtraud Morgner, Gabriele Stötzer-Kachold, Kerstin Hensel, Christa Wolf) selber feministische Positionen vertreten oder nicht.

Linklater weist eingangs auf die problematischen Begriffsbestimmungen der "DDR-Literatur" hin, doch steht auch für sie außer Zweifel, daß die sozialen, kulturellen, politischen Rahmenbedingungen der DDR zugleich Bedingungen für die Konstruktion von Sexualität in der Literatur Ostdeutschlands gewesen sind und darüber hinaus die sexuelle Identität der Frauen, der Autorinnen und Autoren mitbestimmt haben. Linklater folgt Judith Butlers Ansatz, dem zufolge sexuelle Identität von Frauen in einem heterosexuellen Umfeld und im gesellschaftlichen Diskurs erst faßbar wird. Aber sie widerspricht dem weithin konsensfähigen Ansatz der Literaturwissenschaft, die Literatur und die Kunst der DDR allgemein als "Ersatzfunktion" zu begreifen. Zwar ist Irmtraud Morgners utopische Sensualität auch durch die defiziente Alltagsrealität der DDR zu begreifen, aber es wäre kurzschlüssig, sie ausschließlich dafür in Anspruch zu nehmen. Dann nämlich müßte es viel mehr utopische Literatur in der DDR gegeben haben. Irmtraud Morgner ist jedoch fast ein Einzelfall. Im übrigen werden sexuelle Defizienzerfahrungen in allen deutschen Literaturen thematisiert, man vergleiche etwa Elfriede Jelineks "Lust" oder Marlene Streeruwitz´ "Verführungen".

Wichtig ist für Linklaters Arbeit der Ansatz von Hélène Cixous und Luce Irigaray, die nach dem Zusammenhang von (weiblicher) sexueller Erfüllung und Schreiben fragen und Autorinnen wie Gabriele Stötzer-Kachold beeinflußt haben. Sie konsultiert Theorien zur Identitätskonstitution aus Feminismus und Postmoderne (Patricia Waugh, Toril Moi) und Foucaults Studie "Sexualität und Wahrheit". Zentral ist für ihre Argumentation auch Foucaults Definition des Autors als Funktion: sie kann zeigen, daß (sexuelle) Identität als Prozeß dynamischer Beziehungen und wechselnder Rollen und Funktionen des Subjekts zu konzipieren ist, der innerhalb von Autor-Œuvres verschiedene Diskurstypen generiert. Das Werk der bei uns weitgehend unbekannten Autorin Gabriele [Stötzer-]Kachold (geboren 1953) ist dafür ein gutes Beispiel: "anpassungsorgasmus widerstandsorgasmus / hinlegeorgasmus drauflegeorgasmus / reflexionsorgasmus futuroorgasmus / mitmachorgasmus gegenmachorgasmus" beginnt einer ihrer Texte.

Beth Linklater kann in ihrem Buch zeigen, daß die Konstruktion und Darstellung von Sexualität nicht unwesentlich zur formalen Erweiterung und ästhetischen Bereicherung der DDR-Literatur beigetragen hat. Die Darstellung von Sexualität hat dem Experiment Felder erschlossen, alte (Rollen-)Klischees avantgardistisch performiert und den literarischen Raum bereichert.

Titelbild

Beth Linklater: Und immer zügelloser wird die Lust. Constructions of sexuality in East German Literatures.
Peter Lang Verlag, Bern 1998.
248 Seiten, 35,30 EUR.
ISBN-10: 3906759539

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