Null

Ein Literatur-Hypertext-Experiment geht konventionelle Wege

Von Stefanie PhilippRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Philipp

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was einst als Internet-Projekt von Thomas Hettche und Jana Hensel ins Leben gerufen wurde, ist nun in Buchform zu bestaunen - oder zu bemängeln. Erstaunlich, wie die (großen) Geister sich scheiden.

Die Idee: Der Aufruf zur Teilnahme am Projekt "null" des DuMont Verlags galt einer "vorab bestimmten Gruppe von Autoren" und sollte zu einer Art "Internet-Milleniums-Anthologie" heranwachsen. Ein gewagtes Unterfangen, gab es doch bis Ende 1998 "wenig Literatur bekannterer deutschsprachiger Autoren im Netz, und in den Feuilletons zögerte man noch, das Medium überhaupt zur Kenntnis zu nehmen."

Die Realisation: Da www.dumontverlag.de/null seit dem 31.12.1999 versteinert im Äther des World Wide Web geistert, kann der Leser nur noch schmunzelnd und anhand der liebevoll-verzweifelten Nachbearbeitung Hensels und Hettches erkennen, dass d a s gepriesene Kommunikationsmodell des medialen Zeitalters manch zarte Dichterseele fast in den Wahnsinn getrieben hätte.

Thomas Hettche zeigte sich anfangs erstaunt über die freudige Reaktion vieler eingeladener Literaten, diesen Anlass zu nutzen, um endlich online zu gehen. Heute weiß der Mitherausgeber vermutlich, warum der so genannte Support eine so gut bezahlte Sparte der IT-Branche darstellt...

Das Buch: Die einen begrüßen die Veröffentlichung der literarischen Texte aus dem Internet in konventioneller Buchform (Frankfurter Rundschau). Sie meinen, dass das gedruckte Wort einen Teil dessen festhalte, was man zukünftig als historisch bedeutsamen Schritt der Literaturszene betrachten könne. Die Herausgeber sehen es als Dokumentation - dem Katalog einer Ausstellung dessen, was im Netz "seine eigene Atmosphäre und Dynamik entwickelte" - vergleichbar.

Ich selbst bin unschlüssig, ob ich es nicht als "Rückzieher" vor dem Medium sehen sollte, als Inkonsequenz; denn gerade die eigene Atmosphäre und Dynamik lässt sich in gedruckter Form nicht besser darstellen als im Netz. Warum so wenig Vertrauen in dieses neue Universum setzen, dass man ihm nicht einmal zubilligt, ein derartiges Projekt zu bewahren? In seiner ursprünglichen Form ist "null" jederzeit zugänglich, zugänglich in der Form, in der es real war - nämlich virtuell.

Um nun dennoch "anders" daherzukommen, hat man dem Buch eine zugegebenermaßen anstrengende Aufmachung mit auf den Weg gegeben. Riesige Faltblätter, DIN-A 3, die 16 bedruckte Seiten in sich bergen, deren Reihenfolge durch Drehen, Wenden, nochmaliges Drehen offenbar wird.

Dadurch, dass die einzelnen Texte mit Datum und sogar Uhrzeit vermerkt sind, wird der kommunikative Charakter der Zusammenstellung deutlich. Trotzdem hängt eben dieser Tatsache ein fahler Nachgeschmack an. Ich möchte "scrollen", suche den "Link", der mich zu der Stelle im Buch verweist, an der ich die Fortsetzung finde, die Reaktion des einen auf den anderen...

Kommunikation der Autoren miteinander, Aktion und Reaktion aufeinander, auf aktuelles Zeitgeschehen - das mag nichts Neues sein. In der Form des Austausches via WWW gewinnt es jedoch ganz neue Dimensionen und Qualitäten.

Es ist spannend, Text hin, Hypertext her, als Leser quasi live zu beobachten, wie die sonst so durchdachten Autoren, hin und her formulierend, redigiert, zensiert, lektoriert, sich nicht mehr indirekt und mit Distanz, sondern vielmehr direkt und ungefiltert äußern. Der 1999 wütende Kosovo-Krieg, so lässt sich an einigen Texten und Mails ablesen, erhitzte die Gemüter besonders. Die Pseudo-Anonymität im Netz führte teilweise zu Erkenntnissen über die Beteiligten des Projektes, die manchen Kritiker und jetzt jeden gewillten Leser erkennen lassen: Das sind auch nur Menschen, die sich da echauffieren und möglicherweise scharfe Meinungen vertreten können.

Gerade die Tatsache, dass kein Redigieren den formulierten Text verändern, verkürzen, verbessern oder öffentlichkeitstauglicher hätte machen können, birgt das in sich, was das neue Medium eben so spannend und intensiv gestaltet. Ein Mangel an Qualität entstünde dadurch, menetekeln einige. Jedoch möchte ich anmerken, dass sich hier doch gerade Qualität herauskristallisiert; unverblümt. Die angeführte Dynamik entsteht erst durch die Möglichkeiten, die das Internet im Austausch von Informationen bietet; dialogisch, dank der fast zeitgleichen Antwort - reell durch die Ursprünglichkeit des gesendeten Wortes, die Unveränderbarkeit der gesendeten Daten.

Am Rande bietet sich dem Leser darüber hinaus noch unbeabsichtigte Komik (vielmehr ein hämisches Grinsen auf dessen Gesicht), da auch nachzulesen ist, und dafür sollte man den Herausgebern danken, dass so mancher Autor vielleicht doch lieber an der Schreibmaschine gearbeitet hätte:

"Von: Jana Hensel

Datum: Son, 10. Jan 1999 15:48 Uhr

aus der traum, die computerkiste will nicht so, wie ich will [...]

p.s. was macht man, wenn einen sein eigenes modem nicht versteht???"

"Von: Harald Taglinger

Datum: Die, 19. Jan 1999 12:21 Uhr

Thhhhooooooooooooommmmaaaaaaaaas

Zum letzten Mal:

Ich kann PICs nicht lesen. JPG oder GIF, sonst nehm ich Dir Dein Telefon weg."

"Von: Jana Hensel

Datum: Fre, 26. Feb 1999 9:58 Uhr

so männer,

ich war heut schon fleißig, punkt neun stand ich vor meinem computerhändler und hab speicher gekauft, der beteuerte die ganze zeit sowas ja noch nie erlebt zu haben. [...]"

"null" bietet viel. Gedichte, Postkarten, Kollagen, Kurzgeschichten, deren Fortsetzungen; ein bisschen wie stille Post oder das Muster eines Quilts, der jenes Motiv aufnimmt und dann wieder ein völlig neues einbringt und der doch e i n e Geschichte erzählt - die einer Familie oder die eines sich terminierenden Jahrtausends. Vielleicht auch schlicht das, was "bekannte deutschsprachige Autoren im Netz", mehr oder weniger motiviert von dem großen Schritt, den sie der Literatur zu gehen helfen, gemeinsam auf die Beine gestellt haben.

Titelbild

Thomas Hettche / Jana Hensel (Hg.): Null. Literatur im Netz.
DuMont Buchverlag, Köln 2000.
406 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3770153081

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