Ausweitung der Gesichtszone

Die Anthologie "Blick Macht Gesicht" eröffnet Weitblick

Von Claudia SchmöldersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Schmölders

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ethnographische und mediale, ästhetische, archäologische und politische Aspekte, das vergrößerte, das verlorene und das abgesprochene, das maskierte und das Gesicht als Image behandelt die vorliegende Anthologie, in anregenden, materialreichen Aufsätzen. Das Buch aus der Reihe Traversen des Vorwerk Verlages stellt die multiple Persönlichkeit des Gesichts ins Zentrum, ganz nach der Devise von Gertrud Koch, wonach das Gesicht spätestens mit dem Monotheismus seine eigene Kulturgeschichte begründet habe, "als symbolische Form mindestens ebenso wie als anthropologisches Phänomen, als theologisches ebenso wie als ästhetisches."

Das Gesicht als "Kulturthema": keine Frage, dass es die entsprechende Aufmerksamkeit verdient, auch wenn es wissenschaftlicherseits bisher nur punktuell gewürdigt wurde. Bewusst wurde der von Koch genannte Diskurs spätestens in der Weimarer Republik; seit 1980 mit erneuter Intensität in Frankreich. Hier bewegte man sich zwischen der talmudischen Lektüre von Emmanuel Lévinas und den schizophilen Sätzen von Gilles Deleuze in "Mille Plateaux", ihrerseits denkwürdig, weil rabiat mit der biologischen wie auch der religiösen Basis brechend. "Das Gesicht ist keine Universalie", schrieb der spätere Kino-Theoretiker. "Selbst das des einfachen Mannes ist nicht universal, sondern der ,Weiße Mann' mit seinen großflächigen weißen Wangen und den schwarzen Augenhöhlen ist es. Das Gesicht ist Christus. Das Gesicht bezieht sich auf den europäischen Typus..."

Wie um ihn aufzulösen, erschienen schon Ende der achtziger Jahre Bücher (u. a. Boris Cyrulnik, David Le Breton), die das Gesicht vielfältig zwischen Kunst und Biologie, Psychologie und Religion, Medien und Politik perspektivierten, wie hier nun seinerseits Hermann Kappelhoff in der Einleitung. Ist das Gesicht eine Universalie? Der Band steuert durch ein Meer von Thesen, die Deleuze zunächst bestätigen. Film- und Fotowissenschaftler, wie die meisten Autoren in diesem Bande, sehen das Gesicht unter dem Aspekt medialer Konstruktion, also als Multiple. Ethnologen wie Till Förster, der über (afrikanische) Masken schreibt, bestätigen das, denn auch die Maske des sogenannten Primitiven ist kein Körperteil, sondern funktioniert rein symbolisch in vielfachem Kontext. Haben wir Europäer aus Mangel an Masken den Gesichtsdiskurs so überanstrengt? Vielleicht stellen die einzelnen Wissenschaften schon längst wieder disparate Masken begrifflich bereit und schützen einen Universalbegriff namens Gesicht nur noch vor?

Autoren wie Carolin Bohlmann erfüllen ein überaus aktuelles Phantasma der Kulturwissenschaft, die sich als Archäologie verstehen und Erinnerungsarbeit - wie hier an Mumienporträts - leisten möchte. Politische Ikonographen, wie Wu Hung mit seinem lehrreichen Aufsatz über das Mao-Porträt am Tiananmen, sehen die suggestiven Möglichkeiten der Propaganda selbst im buddhistischen Kulturkreis. Ethnographisch und feministisch zugleich argumentiert der Beitrag von Barbara Wahlster über algerische Frauen unterm Schleier und im fotografischen Abbild; der deutschen Skandalgeschichte wiederum widmet sich die Mitherausgeberin Helga Gläser, wenn sie über das jüdische Gesicht schreibt. Zu den Anfängen gehen die Arbeiten von Elisabeth Moortgaat und Thomas Koebner über Fotografie und Film in der Weimarer Republik. Man hat diese Epoche mit Walter Benjamin und Max Picard zur Endzeit des Menschengesichts, des Porträts oder mindestens der sogenannten Aura erklärt; aber nach den hier abgedruckten Aufsätzen, die Eisenstein und Balasz und viele Fotografinnen referieren, stimmt das Gegenteil. Mit der Großaufnahme im Film kommt eine völlig neue Qualität der Wahrnehmung zustande, die Gilles Deleuze in einer völligen Kehrtwende zu Beginn der neunziger Jahre zum Inbegriff des "Affektbildes" gemacht und also grundsätzlich rehabilitiert hat. Ausgerechnet das mediale Gesicht wird jetzt als Universalie reklamiert in eben dem Sinne, den jedes Kind dem Gesicht der Mutter gibt: als archaische Kommunikationsbasis, als erste Raumerfahrung, als frühe und fundamentale Affekterfahrung. Freilich schwankt, wie Koebner schreibt, das filmische Großgesicht zwischen versprochener Intimität und hergestelltem Image in einem gefährlichen double bind, während das reale Gesicht der Mutter böse und freundlich blicken kann, ohne an Nähe zu verlieren. Die entsprechende Philosophie hat Peter Sloterdijk in seinem Sphärenwerk geliefert.

Ebenfalls einen Neuansatz bedeutet das Porträt der Weimarer Fotografinnen, die mit ihren Selbstbildnissen das weibliche Gesicht buchstäblich selbst in die Hand nehmen. Gänzlich zum Universalgesicht als einem geheimen Attraktor zurück findet dann doch Thomas Koppenhagen mit seinem Referat über Schönheitsmasken. An diesem Punkt stehen wir heute ideengeschichtlich wie erstarrt, denn im Begriff der - weiblichen - Schönheit fällt die Idee der Maske mit erzbiologischen Hoffnungen zusammen; eine unschlagbare Universalie, jedenfalls in den Augen von Filmproduzent und Naturwissenschaftler.

Kurz, ein anregendes Buch, an dem nur zweierlei ziemlich ärgern kann. Zum einen Bernhard Groß, der das Phänomen der Groteske (zu Recht) von Rabalais über de Sade zu Pasoloni und Francis Bacon verfolgt, aber leider zur Universalie aller Gesichtswahrnehmung verallgemeinert. "Das bürgerliche Porträt ersetzt die Darstellung des Grotesken durch das Bildnis des in sich versunkenen Individuums" - was heißt hier "ersetzen"? Ist der versonnene Mensch nicht historisch wie biologisch gleichursprünglich mit dem affektiv enthemmten? Buddha lächelt versonnen lange vor Christi Geburt; und auch Babies können unaufgeregt in die Welt gucken. Und wo steht geschrieben, dass Emmanuel Lévinas von der Groteske des Sadismus inspiriert gewesen sei? Ärgerlich ist zweitens der Titel des Buches. "Blick macht Gesicht" ist ein fehlerhafter Satz und stimmt zudem nicht: denn Augen und Blicke haben auch die Tiere und dennoch "machen" sie einander kein Gesicht. Die Überschätzung des homo faber sollte nicht auch die Wissenschaft ergreifen.

Titelbild

Helga Gläser / Bernhard Groß / Hermann Kappelhoff (Hg.): Blick Macht Gesicht.
Verlag Vorwerk 8, Berlin 2001.
378 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3930916320

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