Mühsam in Form gepresst

Don DeLillo überspannt in "Körperzeit" den Sprachbogen

Von Oliver GeorgiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Georgi

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Sie sah es zum größten Teil im Rückblick, weil sie erst nicht wusste, was sie eigentlich sah..."

Als mit dem kleinen Bändchen "Körperzeit" nach verhältnismäßig kurzer Zeit ein neues Buch von Don DeLillo auf den Markt kam, hatten sich die meisten wohl schon auf einen abermals politischen Roman eingerichtet; einen Roman, in dem DeLillo wie in vorangegangenen Erfolgen wie "Mao II" oder dem schon episch zu nennenden "Unterwelt" Stellung beziehen und das Verhältnis von Gesellschaft und Politik kritisch beleuchten würde. Diese Hoffnungen indes waren vergeblich - die politische Realität spielt in DeLillos neuem Werk keine Rolle. Im Gegenteil: Mit "Körperzeit" widmet sich DeLillo nach dem Makrokosmos Gesellschaft dem Mikrokosmos: der Bedeutung von Zeit und Erinnerung.

Die Handlung der nur 140 Seiten füllenden Prosa ist spartanisch. Rey Robles, Regisseur und verheiratet mit der Performancekünstlerin Lauren, begeht in New York Selbstmord. Der Tod ihres Mannes erschüttert Lauren zutiefst; sie flüchtet sich in das Landhaus der Robles, den tragischen Verlust zu begreifen und zu überwinden. Hilfe erfährt sie dabei von einem gutmütigen Verrückten, den sie auf dem Speicher des Landhauses entdeckt. "Mr. Tuttle", wie Lauren den Irren nach einem früheren Lehrer bald tauft, scheint ihren Mann gekannt zu haben, weiß er doch Reys Sprache und Mimik perfekt nachzuahmen. Zu einer "normalen" Kommunikation zwischen Lauren und Mr. Tuttle kommt es jedoch nicht: der ungebetene Gast bringt nur Sprachfetzen hervor, unvollständig und scheinbar unzusammenhängend. Kein körperliches Lebewesen scheint Tuttle zu sein, sondern Laurens Projektion der geistigen und körperlichen Physiognomie ihres verstorbenen Mannes.

Doch nicht nur mit und durch Mr. Tuttle verarbeitet Lauren die Vergangenheit: Die Performancekünstlerin inszeniert das Stück "Körperzeit", inszeniert sich selbst, um das Erlebte auszudrücken. Zum Ende hat Lauren wieder ein Stück Souveränität gefunden, hat sich gleichsam entgrenzt: "Sie trat ins Zimmer und ans Fenster. Sie öffnete es. Sie riss es auf. Sie wusste nicht, warum sie das tat. Dann wusste sie es. Sie wollte den Biss des Meeres auf ihrem Gesicht spüren, den Fluss der Zeit in ihrem Körper, um zu erfahren, wer sie wirklich war."

Schon in der Eröffnungsszene von "Körperzeit" wird deutlich: DeLillo will es diesmal ganz genau wissen. Minutiös vertieft er sich in die Schilderung des Frühstücks-Alltags von Rey und Lauren Robles, speziell des letzten gemeinsamen Frühstücks, bevor Rey sich umbringt. Angefangen beim Mischen des Soja-Müslis über das Füllen eines Glases mit Leitungswasser bis hin zum Wasserkochen mit einem alten, verbeulten Kessel (weil Lauren den neu erworbenen nicht leiden kann) - detailliert und geradezu enervierend pedantisch überträgt DeLillo Alltagsvorgänge in geschriebene Form, gestaltet ihre Vielschichtigkeit sprachlich:

"Ihr waren die Sojakörner eingefallen. Sie ging zum Schrank und holte die Schachtel und erwischte die Kühlschranktür noch, bevor sie wieder zufiel. Sie griff hinein, nach der Milch, und dann erst kam an, was er vor ungefähr acht Sekunden gesagt hatte. [...] Sie ging an den Tresen und streute Soja über Müsli und Früchte. Der Hebel prallte oder prellte hoch. Er stand auf und holte sich seinen Toast, dann die Butter, und sie musste sich, ihre Milchtüte in der Hand, vom Tresen wegdrehen, damit er die Schublade aufziehen und ein Buttermesser nehmen konnte."

DeLillo versucht sich mit seiner Prosa an nicht weniger als an einer Gesamtdarstellung der Alltagskultur, der Sinnes- und Gedächtniseindrücke wie sie Vergangenheit und Gegenwart, Imaginiertes und Reales konstruieren. Und so verschmelzen in "Körperzeit" Sprache, Zeit und Körper, bis sie zu einem einzigen ,stream of consciousness' geronnen sind. Mr. Tuttle spricht wie Rey, Lauren spricht wie Mr. Tuttle; eine Farbdose wird in Laurens Gehirn in einer Mischung aus Wahrnehmung und Erinnerung zu Reys Gesicht, und jeder weiß alles und gleichzeitig doch nichts.

Kernfigur und damit Dreh- und Angelpunkt ist die Figur des Mr.Tuttle / Rey / Lauren; personifiziertes Sammelbecken dreier (vierer?) Biographien mit all ihren Erinnerungen, Eindrücken, Ängsten, Begehrlichkeiten. Tuttle repliziert für Lauren Alltagssituationen mit Rey, simuliert sie sinnlich wie geistig, wird zu Reys Alter Ego, zum Hauptdarsteller in Reys Lebensinszenierung. Für Lauren macht er damit vergangene Unachtsamkeiten des partnerschaftlichen Alltags wett und hilft ihr bei der Trauerarbeit. Denn er gibt ihr die Möglichkeit, scheinbar Unwichtiges, Verdrängtes, Banales bewusst wieder zu erleben und zu rekapitulieren. So erhält Lauren die Möglichkeit, Reys Tod zu verarbeiten und sich von der Schuld der Beiläufigkeit zu befreien.

DeLillos Charaktere "erleben" nicht Momente, sie zelebrieren sie - vom Autor dabei mit einer überbordenden Sprache unterstützt: ",Hier sein ist zu mir gekommen. Ich bin im Augenblick, ich werde den Augenblick verlassen. Stuhl, Tisch, Uhr, Flur, nur im Augenblick. Das ist zu mir gekommen. Hier, zu mir. Aus dem Augenblick bin ich weg, bin verlassen, verlasse ihn. Ich werde den Augenblick aus dem Augenblick verlassen."

Ähnlich wie James Joyce in seinem "Ulysses" sucht auch Don DeLillo nach einer Sprache, die Nicht-Darstellbares in seiner Komplexität darstellbar machen kann: "Es muss einen imaginären Punkt geben, einen Nicht-Ort, wo sich die Sprache mit unserer Wahrnehmung von Zeit und Raum überschneidet, und er [Mr. Tuttle] ist ein Fremder an dieser Kreuzung, ohne Worte oder Orientierung." Nicht nur Mr. Tuttle ist ein Fremder an dieser Kreuzung, so möchte man meinen, sondern auch der Autor, und mit ihm der Leser. Denn gesteht DeLillo in dieser Passage nicht selbst das unvermeidliche Scheitern seines Versuchs ein? Jede Annäherung an die Komplexität der Welt durch die Sprache muss doch ein Versuch bleiben, eine Illusion.

Deutlicher noch wird DeLillos Vision, wenn man den hier zitierten Begriff des "Nicht-Orts" übersetzt in einen anderen Terminus, den der "Utopie", des griechischen "u topos". Der Amerikaner entwirft in "Körperzeit" die Utopie einer allumfassenden Sprache, die die Welt in ihrer Gesamtheit, mit all ihren komplexen Verknüpfungen von Zeit und Raum, konkret auszudrücken vermag. Ein gewagter Versuch wie gesagt, der für den Mut des Autors und die bedingungslose Umsetzung einer Idee unbedingt zu honorieren ist.

Ein Lob ist an dieser Stelle dem Übersetzer Frank Heibert zu zollen, der DeLillos verschwenderische Sprachspiele präzise ins Deutsche übertragen hat - eine wahrhaft schwierige Aufgabe. Der deutsche Titel "Körperzeit" entspricht dem Werk sogar noch ein bisschen besser als der Originaltitel "The Body Artist", der seinen Schwerpunkt mehr auf Laurences Körperarbeit als auf das Kombinieren verschiedener Zeitebenen legt. Trotz dieses Unterschieds bewahrt Heiberts Übersetzung die stilistischen Eigenartigkeiten der amerikanischen Vorlage - und damit ihre Fragwürdigkeiten.

Denn ein schaler Eindruck bleibt: Hier wollte sich ein Autor gedanklich wie sprachlich beweisen. Don DeLillo hat mit "Körperzeit" ein ambitioniertes Experimentalstück abgeliefert, Konzept-Kunst. Nicht Prosa, bei der die Form dem Inhalt untergeordnet ist und erst im Laufe der Rezeption zu Kunst wird, sondern Prosa, die 'vorsätzlich' als Kunst gemacht ist, als Kunst im Sinne von "künstlich". In puncto Metaphernfülle und syntaktischem Reichtum mag DeLillos Experiment die universitären Gemüter entzücken - ihr Wert als ansprechende Lektüre indes sei hier bestritten. Zu vage, zu verquast, vergeistigt, zu blutleer wirkt "Körperzeit", und so gar nicht körperlich und sinnlich, so als sei der vielversprechende Titel des Buches eine ironische Anspielung. Und so reihen sich breit ausgewalzte Schilderungen aneinander, von herabfallenden Büroklammern, "flirrenden Molekülen im Telefonhörer" oder Möwen, die "die im Fels gebundene Zeit zum Fliegen bringen" - schön beobachtete Momente sicherlich, jedoch hoffnungslos überladen mit spekulativen, spirituellen Partikeln: "Du bestehst aus Zeit. Diese Kraft sagt dir, wer du bist. Schließ die Augen und spüre sie. Denn die Zeit definiert dein Dasein."

Allzu oft bewegt sich DeLillo sprachverliebt im Reich der Platituden, der an Bedeutung zu schwangeren, mühsam in Form gepressten Metaphern. Es ist, als habe er fast bezeichnend und seltsam reuevoll in einem Satz die Schwierigkeiten der Rezeption von "Körperzeit" schon vorweggenommen, als er schrieb: "Hübsches Wort. Und was bedeutet es?"

DeLillo hat "die intimsten und elementarsten zwischenmenschlichen Regungen genau beobachtet", insoweit verspricht der Klappentext nicht zu viel. Nur eines leistet "Körperzeit" eben nicht: Es stellt diese Regungen nicht "unter die Haut gehend" dar. Reglos, unkörperlich bleibt seine Prosa, angestrengt intellektuell und dabei den Sinneseindrücken durch die aufgetürmten Metaphern die Unmittelbarkeit, die Tiefe nehmend.

Nicht immer, so die Folgerung, nicht immer resultiert aus Schwierigkeit zwingendermaßen Anspruch, nicht immer aus Abstraktion Sinnhaftigkeit. "Körperzeit" läuft Gefahr, den Ruf eines gut gemachten Experiments zu erlangen, das aber fast ungenießbar ist.

Literatur sollte Intellektualität eben nicht auf Kosten der Lesbarkeit und vor allem der Lesefreude vermitteln. Auch, wenn man mit dieser Haltung vielleicht nicht den literaturkritischen Hauptnerv trifft.

Titelbild

Don DeLillo: Körperzeit. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Frank Heibert.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001.
140 Seiten, 15,30 EUR.
ISBN-10: 3462029738

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