Kulturelle Genmutation

Ludwig Ammans innovativer Ansatz zur "Geburt des Islam"

Von Nils MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie konnte das geschehen, der letztliche Erfolg eines anfänglich so aussichslos erscheinenden Unternehmens wie das Muhammads? "Der Erfolg von Offenbarungen ist ein Skandal", stellt Ludwig Ammann zu Beginn seiner Ausführungen fest. Beispiele wie das des Pharaos Echnaton belegen aber auch, dass keineswegs jede - monotheistische - Offenbarung erfolgreich ist. Unter welchen Umständen, so gilt es zu fragen, tritt ein Erfolg - die Bekehrung und Verwandlung des gesamten Gemeinwesens - ein, und: gibt es historische Gegebenheiten, die einen Erfolg zwingend herbeiführen? In Bezug auf die islamische Offenbarung formuliert Ammann die drei Fragen: Was war in Medina anders als in Mekka? Was hat Gott überhaupt durch Muhammad offenbart? Und wie waren die arabischen Stammesgesellschaften beschaffen, die für seine Offenbarung zunächst keine Verwendung hatten?

Um diese Fragen in umgekehrter Reihenfolge zu beantworten, gilt zunächst die Feststellung, dass die tribalen Organisationsformen der Beduinenstämme Arabiens sich nicht nur politischen Einigungsversuchen, sondern auch großen religiösen Bewegungen gegenüber als erstaunlich resistent erwiesen hatten. Religiosität und Gottesverehrung hatten im alltäglichen Leben vor der Offenbarung einen denkbar geringen Stellenwert. Die Aufgabe, dem Leben Sinn zu verleihen, erfüllte nicht die Religion, sondern der Dichter: ein Leben nach dem Tode galt als undenkbar - ein wenig Unsterblichkeit, das der "zerstörenden Zeit" abgerungen werden konnte, versprach nur der dichterische Ruhm eines Heldenlebens. Ein frommer Lebenswandel wurde nicht belohnt.

Es erlangten nur wenige Heiligtümer Arabiens überregionale Bedeutung - gleiches gilt für die dort verehrten Götter, unter ihnen allerdings der Kaabakult in Mekka inklusive des dort verehrten Allah. Ihn prädestinieren einige Besonderheiten zu einer Rolle als "Herrschergott": Er wird vom Autor als "Hochgott" klassifiziert, ein Gott also, der über beziehungsweise hinter den anderen Gottheiten steht und nur in wenigen Fällen direkt angerufen wird. Zudem ist die Allah-Verehrung verbunden mit dem abrahamitischen Gründungsmythos, der als ein Keim für einen expansiven Monotheismus angesehen werden kann.

Von diesem Allah erhält der sinnsuchende Muhammad - Mutter, Vater und Großvater starben in seiner frühen Kindheit - eine Offenbarung, die so gar nicht in des religiöse Leben seiner Heimatstadt Mekka passt, und ihn letztlich zur Auswanderung nach Medina zwingt. Revolutionär am neuen Programm der Offenbarung ist die Bejahung eines jenseitigen Lebens, die den Herrschergott über den Zeitbegriff erhebt - ihn die Grausamkeit der Zeit lindern lässt. Dies erlaubt eine gewaltige Kontingenzbewältigung: Zu der bereits geglaubten Natur-Schöpfung durch Regenspende kann die Weltenschöpfung treten; als deren Pendant dient die Auferweckung der Toten. Durch den bedingungslosen Monotheismus - die "satanischen Verse", die zunächst drei Töchtern des Allah die Göttlichkeit zugestehen, werden bald aus dem Kanon genommen - erfolgt eine religiöse "Marktbereinigung": Nicht nur die anderen Götter, auch die Dichter werden ihres Amtes enthoben; die innovative Textform des Koran - geschrieben von einem Laien - gilt als Überlegenheitsbeweis der direkt von Gott an den Propheten gerichteten Worte gegenüber der herkömmlichen Dichtung. Vollendet wird diese neue Form von Religion durch die "nativistische Wende" des Islam, der Rückbeziehung auf sich selbst, nachdem zuvor viele Fremdelemente in das monotheistische Programm aufgenommen wurden. Symbol dafür ist die Änderung der Gebetsrichtung von Jerusalem nach Mekka.

Ein weiteres innovatives Angebot findet erst in Medina Anklang: die Ablösung der genealogischen durch die religiöse Vergemeinschaftung. Dass die integrierende Kraft der Offenbarung erst im heillos zerstrittenen Medina, nicht aber im intakten Gemeinwesen Mekkas zum tragen kommt, ist für den Autor ein Hauptargument in seiner umfangreichen Widerlegung angeblich überholter Erklärungsversuche. Diese gehen zumeist von einer Periode religiösen und gesellschaftlichen Verfalls aus, die die "Geburt des Islam" begünstigt habe. Im Gegenteil: "Der islamischen Offenbarung geht keine Krise voraus, sie ist die Krise." Ammann schlussfolgert, dass das Feld der Religion und ihrer Symbolik von sich aus aktiv werden könne und eine erstaunlich Eigendynamik entfalte. Die bisher angenommen Krise habe nicht stattgefunden, sondern sei konstruiert, und die Ereignisse in der Rückschau verstehbar zu machen und sie in einer nicht gegebenen Kausalkette zu verankern. Die Veränderungen infolge der Offenbarung habe lediglich die religiöse Idee eines Einzelnen bewirkt, entstanden aus einem dem Menschen eingeborenen "Puls der Reflexion". Gesetzt, man rekonstruiere das Geschehen als "kulturelles Evolutionsgeschehen", so sei "die Idee als funktionales Äquivalent zur Genmutation [zu] begreifen."

Fraglich bleibt, warum die im Untertitel angesprochene Innovation eine "historische" sein muss, räumt der Autor doch selber ein, wie schnell die Beduinenstämme ihre alten Organisationsformen wieder annahmen, der Islam - ähnlich dem Christentum - zu einem urbanen Phänomen wurde, oder in beiden Religionen ein ausgeprägter Engels- und Heiligenkult dem Monotheismus etwas von seiner Ausschließlichkeit nahm. Anstatt in Gefahr zu geraten, sich in der bekannten Debatte Innovation vs. Kontinuität zu verstricken, wird der interessierte Leser dem Autor wünschen, seine Absage an die zwingende Kausalität durch weitere Arbeiten zu anderen Offenbarungen vergleichend zu erweitern. Fortsetzung folgt (hoffentlich)!

Titelbild

Ludwig Ammann: Die Geburt des Islam. Historische Innovation durch Offenbarung.
Wallstein Verlag, Göttingen 2001.
111 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3892444609

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