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Ein britisches Buch über Heimat als deutscher/s Traum/a?

Von Gustav FrankRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gustav Frank

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heimat! Spätestens aus Umberto Ecos Selbstkommentaren zum "Name[n] der Rose" haben wir gelernt, dass solche Begriffe - Ecos Beispiel ist 'Liebe' - heute nur noch in einem bestimmten Tonfall geäußert werden können. Mit ihm signalisiert der Sprecher, dass er sowohl meint, was er sagt, aber zugleich auch weiß, man kann das so nicht mehr sagen; er ist sich des Zitatcharakters, der verlorenen Authentizität oder der so langen wie problematischen Geschichte des Wortes bewusst. Sprechen unter der condition postmoderne.

Mit Heimat beobachten die beiden Autorinnen des Buches einen solchen Komplex, von dem die Kultur nicht lassen will oder kann, und rekonstruieren seine Voraussetzungen in der Geschichte, führen hin zu den Verwirrung der (nur?) deutschen Gefühle bei einem (un-)haltbaren Begriff. In sieben Kapiteln 'Heimatkunde' schreiten sie dazu die letzten 100 Jahre ab, die zwischen Hermann Sudermanns naturalistischem Theaterstück "Heimat" von 1893 und Feridun Zaimoglus "Kanak Sprak" von 1995 liegen. Sie zeigen darin, wie der Komplex aus Gefühlen, Meinungen und Zuschreibungen 'Heimat' in einer Gegenbewegung gegen Verlusterfahrungen und -ängste der Modernisierung um 1900 entsteht, wie er danach immer wieder zwischen sinnvoller, legitimer Bewahrung, ja Integration und restriktiver, zerstörerisch erstickender Einhegung, ja Einsperrung und Abstoßung osziliert, wie er als Waffe des Einklagens von Authentizität gebraucht und als Verschleierungsstrategie für historische, ökonomische und soziale Brüche missbraucht wird.

Das ausgebreitete Material ist vielfältig, neben Literatur der verschiedenen Genres und Stilhöhen spielt vor allem der Film, aber auch die bildende Kunst, die Alltagskultur eine Rolle. Das Feld ist so weit, dass jedem Leser sofort Ergänzungen einfielen, ohne dass jedoch wesentlich neue Aspekte hinzuträten. Außerdem wird man für das Fehlen von Lena Christ etwa mit einer Lektüre von Clara Viebigs "Das Kreuz im Venn" überrascht und statt des ausgesparten Oskar Maria Graf entschädigt die minutiöse Lektüre einer Szene aus Marieluise Fleißers "Pioniere in Ingolstadt".

Die dichte Beschreibung und Vernetzung des Beobachteten, insbesondere auch die Verknüpfung von 'hartem' sozial- und 'weichem' mentalitätsgeschichtlichen Überblick geht einher mit einem Wechsel der Einstellung, einem Zoom aufs Detail der Geschlechtergeschichte, einzelner Textstellen und ihrer originellen Interpretation. Aber es ist vor allem die Sprache, ihr Reichtum in der Beschreibung, das Fehlen gespreizter Terminologie, die überzeugt und aus dem 234-Seiten Bändchen ein Lesevergnügen macht.

Die Autorinnen wagen sich an eines der spezifischsten 'deutschen' Themen - schon der 'Übersetzbarkeit' wegen - überhaupt heran, und ihr gleichsam ethnologischer Standpunkt erweist sich als überaus fruchtbar. - Ist in der Germanistik seit einiger Zeit vom cultural turn (sic!) die Rede, so sollte mit einem gelungenen Buch wie diesem die Probe auf die Ernsthaftigkeit dieses Unterfangens möglich werden: es umfasst nämlich nicht nur Gegenstandserweiterungen, sondern auch Erweiterung des Kreises der Diskussionsteilnehmer, zwingt zur Wahrnehmung des Fremdbildes anstelle einer Verlängerung der Reihe von Selbstbildern, bedeutet Internationalisierung, Aufgeben von Heimatrechten ... womit wir wieder beim Thema wären.

Titelbild

Elizabeth Boa / Rachel Palfreyman (Hg.): Heimat. A German Dream. Regional Loyalties and National Identity in German Culture 1890-1990.
Oxford University Press, Oxford 2000.
234 Seiten, 29,50 EUR.
ISBN-10: 0198159226

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