Rücken-Ansichten und Nase-Weisheiten

Eine reflektierte Aufsatzsammlung zur kulturellen Anatomie von Körperteilen

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Häufig wurde im kulturtheoretischen Denken der Körper ungefragt als Ganzheit verstanden, über die sich kulturelle Diskurse formieren. Doch [...] sind es oft nur Teile, die fokussiert, hervorgehoben und inszeniert werden." Die von Claudia Benthien und Christoph Wulf versammelten Beiträge erkunden, wie die kulturelle Wahrnehmung, Darstellung und Codierung des Körpers über einzelne 'Teile' und Fragmente vollzogen wird. Als Hintergrund der von ihnen gewählten Perspektive dient den Herausgebern das Paradigma des 'grotesken Leibes' des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, in dem der Körper nicht als monadische und abgeschlossene Entität mit klar bestimmbaren Grenzen verstanden wird, sondern in seiner Desintegration, Fragmentierung oder Zerrissenheit in Körperteile und einzelne Organe vor Augen geführt wird.

In diesem Diskurs beginnen abgerissene oder verlorene Gliedmaßen ein Eigenleben zu führen; sie durchgeistern Künste, Träume und Phantasmen. Angesichts autonom agierender Geschlechtsteile, abhanden gekommener Nasen und tanzender Torsi gewinnen zwei komplementäre Blickwinkel an Interesse: Erstens die aus den Akten der (symbolischen) Zerstückelung und libidinösen Aufladung hervorgehende Vereinzelung. Und zweitens die "kognitiven Ergänzungsleistungen", derer es bedarf, damit im Körperfragment doch wieder der 'ganze' Leib wahrgenommen wird. Das auf diese Weise entstehende Alphabet des Körpers - es reicht vom Scheitel bis zur Sohle - entspringt deshalb nicht oder zumindest nicht nur der Notwendigkeit, das gesammelte Körper-Wissen inhaltlich aufzugliedern, sondern ist selbst Bestandteil bestimmter kultureller Formen der Teilung und Ordnung des Körpers.

Um diesen Gedanken noch weiter zuzuspitzen: Körperteile verdanken ihre Konstruktion und Konstitution so grundlegend kulturellen Praktiken, dass es sie unabhängig von diesen gar nicht gibt. So beweisen ethnolinguistische Wortfeldanalysen der Gliedmaßen, dass bestimmte Unterteilungen (Hand, Unterarm, Ellenbogen, Oberarm usw.) in Zonen nahe des Äquators nicht existieren. Dazu passt unter leicht verschobener Perspektive auch die kulturelle 'Verdrängung' oder Verhüllung bestimmter Körperregionen. Der Aufsatz Ann-Sophie Lehmanns ("Das unsichtbare Geschlecht") zeigt eindrucksvoll, dass die bildende Kunst das weibliche Geschlechtsteil weitgehend für undarstellbar hielt. Selbst Malern, die für ihre detaillierte Körperauffassung berühmt waren oder sich mit anatomischen Studien der Vulva befassten, wollte dieses Organ nicht über den Pinsel.

Neben kulturwissenschaftlichen Methoden wie body history, Mentalitätsgeschichte Historischer Anthropologie, Bildwissenschaft und Semiotik greifen in diesem vielschichtigen Band auch die literaturwissenschaftlich orientierten Gender studies. Renaissance und Barock beispielsweise etablierten die Körperfragmentierung als poetisches Verfahren. So fügt der französische Dichterfürst Clément Marot eigene und fremde Lyrismen im Sinne eines physiologischen Sexismus zusammen: "Die Frau hat ihre Zerlegung in sexualisierte Körperfragmente hinzunehmen als Lohn für ihren Preis. Hier wird mit Wort-Geld gezahlt. Ihre erotische Feier funktioniert nur auf der Basis ihrer Zerstückelung. Gerade als Idol und Fetisch des Begehrens wird sie anatomisiert nach Maßgabe der Partialtriebe und zu einem Kunstleib rekombiniert, der dem herrischen Signifikat, dem maitre phallus, zu Diensten ist." (Hartmut Böhme)

Welcher kultureller Zuschreibungen erfreuen sich die sich verselbständigenden Teile des Körpers, auf welche Weise werden sie zu Gegenständen vielschichtiger Mythisierungs- und Entmythisierungsprozesse? Darauf erhält der Leser der "Körperteile" eine provisorisch-fragmentarische, aber durch eine Beschränkung auf bestimmte Medien, Methoden und Epochen eben bewusst partikularisierende Antwort. Haare können Ausdruck von Stärke, Macht und Potenz sein, sie können aber auch die Semantik des Begehrens, Verschlingens und der Rettung transportieren. Das Auge steht nicht nur synonym für Vision und Erkenntnis, in der Videokunst wird es zur Selbstreferenz: In den dargestellten Augenobjekten sieht der Betrachter nicht nur, dass diese Augen bereits etwas erblickt haben, "sondern auch die Reaktion auf das Erblickte". (Sabine Flach)

Auf diese Weise windet sich dieses überaus lesenswerte Buch vom "zerteilten Kopf" (untersucht werden ferner Ohr und Zunge) über den "opaken Rumpf" (Organe, Haut, Knochen, Magen) herunter zum "zerrissenen Geschlecht" (Hintern, Geschlechtsteile und deren Zerstückelung), gefolgt von den "bewegten Gliedern" (Schädel, Rücken, Hände, Füße). Zu den sich in diesen Aufsätzen in ungemeiner Reichhaltigkeit spiegelnden Konnotationen der Körperteile gehört auch der Gegensatz von Leben und Tod. Während die Leber in der Antike als Sitz des Lebens galt und auch heute noch zu den nicht ersetzbaren Organen des menschlichen Körpers gehört, gemahnen Skelett und Schädel an die Vergänglichkeit des Körpers. In der Ikonographie des tanzenden Knochenmanns eilt ein Teil unserer selbst ins Reich der hieb- und stichfesten Schatten voraus.

Vom kulturgeschichtlich zunehmend bewegten Torso - diesem Körperteil widmet sich der Beitrag von Kattrin Deufert und Kerstin Evert -, verläuft gar eine Entwicklungslinie zum modernen Tanz. Auch hierbei ist eine Fragmentierung zu beobachten: Im abendländischen Tanz wandelt sich das Körperbild vom "an der aufrechten Linie orientierten Ideal des harmonischen, zentrierten und selbstbestimmten Subjekts zur polymorphen, multizentrischen Kontur". Die komplexen und gegeneinander verschiebbaren Bewegungsmuster der nur noch durch ihre Anatomie verbundenen Körperteile spiegeln dabei ein "vom Konzept des Codes geprägtes Körperbild digitaler Re-Kombinierbarkeit" wider.

Titelbild

Claudia Benthien / Christoph Wulf (Hg.): Körperteile. Eine kulturelle Anatomie.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2001.
528 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3499556421

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