Die Verzettelung des Leibes

Rudolf Schendas abschweifende Kulturgeschichte des Körpers

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der menschliche Körper kann dramatische Veränderungen erfahren. Seine Wandlungen erstrecken sich von der drallen Rubens-Figur über die Magersucht bis hin zum bewusst ernährten und trainierten, muskelstrotzenden Leib. Die modernen Körperinszenierungen und Körpersensationen tragen dazu bei, das Spektrum um weitere Facetten zu erweitern. Als ebenso wandlungsfähig erweisen sich auch die gesellschaftlichen Körperbilder und Körpermythen. Wer dick war, galt zu früheren Zeiten als reich und anständig, der Dünne war der Habenichts. Heute stellt man sich die Leistungsträger idealerweise als Leptosome vor. Was als gesund oder krank, als schön oder hässlich, als begehrenswert oder abstoßend beurteilt wird, hängt weniger von den biologischen Gegebenheiten ab, als von einem die Leibesempfindungen und -wahrnehmungen steuernden geistigen, sozialen, psychischen und ökonomischen Beziehungsgeflecht.

Rudolf Schenda hat in seiner Kulturgeschichte des menschlichen Körpers unzählige Zeugnisse aus Volkserzählung, Sage, Märchen, schöner und natürlich medizinhistorischer Literatur verarbeitet. Das vorliegende Buch, außen am Menschen ("Haut und Haar") ansetzend und sich über "Kopf und Kragen", "Aug' und Ohr", "Herz und Nieren", über "Brust und Bauch", "Geschlecht und Gemächt" und so fort bis zu "Hand und Fuß" abwärts tastend, enthält weitaus mehr als die annoncierten "hundert wahre[n] Geschichten vom menschlichen Körper". Vielmehr hat der Autor ein pralles, von ungewöhnlichen Begebenheiten rund um den Körper strotzendes Kompendium zusammengestellt. Heilkundliches wechselt hier mit Befindlichkeitsschilderungen der wirklichen und eingebildeten Patienten, Jahrmarktsgeschichten und Ärztelatein finden sich neben 'verbürgten' Berichten von Krankheit und Heilung, gefolgt von wirksamen und unnützen Therapievorschlägen.

Was hat sich in unserem Körper-Denken geändert und lässt sich getrost ad acta legen, was überliefert sich in aktuellen Vorstellungen und erweist sich damit als traditionsgelenkt? Vor allem unter dieser Perspektive erweist sich Schendas Buch als aufschlussreich, da es ein Wissen reaktiviert, für das die eilfertig betriebene Diagnostik der Gegenwart keinerlei Raum mehr zur Verfügung stellt. Menschliches Blut z. B. ist nicht nur ein Transportmittel für Nährstoffe und unliebsame Erreger, sondern eben auch ein Symbol familialer und patriotischer Bindungen, Indikator für Mordtaten und sonstiges Unheil, heilender Lebenssaft oder vermeintlich giftiger und ansteckender Ausfluss. Mit für heutige Augen unvorstellbar rabiaten Rosskuren begegnete man im 17. Jahrhundert den verdrießlichen Verdauungsstörungen, nur kurz scheint dagegen der Weg vom Aderlass zur Blutspende. Auf diese Weise konturiert das Buch Hintergründe, benennt Anknüpfungspunkte für das heutige Körperbewusstsein, beleuchtet aber auch als selbstverständlich geltende Vorstellungen in ihrer Bedingtheit.

Die Kehrseite der großen Erschließungsbreite ist allerdings eine streckenweise mangelhafte kulturwissenschaftliche Einordnung und Erklärung der Körperphänomene, die Schenda damit dem Leser überlässt. Dass mitunter auf die Formulierung aussagekräftiger Thesen und Synthesen verzichtet wird und "Gut bei Leibe" in manchen Kapiteln doch sehr einem medizinhistorischen Kuriositätenkabinett ähnelt, verleiht den mitgeteilten Inhalten eine gewisse Flüchtigkeit. Was war gerade an Lavaters Physiognomik noch einmal lobenswert, wenn man der Gleichsetzung physischer und moralischer Vorzüge widersprechen muss? Die "Lesbarkeit von Gesichtern"? Das kann vieles oder auch gar nichts bedeuten. Zitatreihungen lassen ebenso wie Brüche, Diskontinuitäten und Lücken erkennen, dass der Autor bei der Niederschrift wohl vor allem auf seinen gut sortierten Zettelkasten und die in ihm verwahrten Lesefrüchte vertraut hat.

Wie sehr der Körper und seine Teile an allem unserem Tun und Empfinden beteiligt ist, demonstrieren vor allem die sehr variablen Möglichkeiten der Sprache, ihn darzustellen. Umgekehrt spiegeln die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten und das Vergnügen an pointierten Formulierungen die affektive und lustbetonte Beziehung zu unserem Erstwohnsitz wider. Vielleicht besticht Schendas Buch deshalb auch durch eine ausgeprägte Lust an der Sprache, der durch einen bildhaft-griffigen Erzählstil ihrerseits eine gewisse Körperlichkeit verliehen wird. So werden den Haaren "die längsten und krausesten Rollen" und ein "verlockendes [...] Eigenleben" attestiert. Und die Augen gehen schon einmal als "Sehkugeln" durch, während die Ohren als "knorpelige und fleischige Schalltrichter" erscheinen, die Lippen als "mehr oder weniger fleischige Ränder des äußeren Mundes" oder der Hals als "zylinderförmiges Körperstück, das den Kopf des Menschen mit seinem Rumpf verbindet".

In diesen Schilderungen verbindet sich eine 'materialistische' Bestandsaufnahme mit einem gegenläufigen, ironisierenden, die Bedeutung der Leibesangelegenheiten bewusst relativierenden Moment. Sie rufen erneut ins Bewusstsein, welche unterschiedlichen und qualitativ gehaltvollen Einstellungen wir zu unserer stofflichen Körper-Hülle einnehmen können.


Titelbild

Rudolf Schenda: Gut bei Leibe. Hundert wahre Geschichten vom menschlichen Körper.
Verlag C.H.Beck, München 1998.
436 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3406441106

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