Literatur ohne Geschichte

Ein Autorenlexikon der französischen Gegenwartsliteratur

Von Judith SchneibergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Judith Schneiberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer steht und zurücksieht, wirft Schatten. So ist es ein unmögliches Unterfangen, Vollständigkeit in der Darstellung einer Epoche erreichen zu wollen. Immer wird der Ort, von dem aus betrachtet wird, einer sein, dem sich etwas ins Blickfeld rückt, und je nach Standpunkt fällt anderes Licht auf die Dinge. Diese Unvollständigkeit nennen wir dann Geschichte, Geschichte der Literatur beispielsweise. Eine, die einen Kanon erstellt, der kulturelles Gedächtnis einer Gesellschaft sein will.

Doch was, wenn Literatur noch nicht Geschichte geworden ist? Was, wenn das, wovon gesprochen wird, wir selber sind? Wenn noch keine Distanz durch Zeit geschaffen ist, Dinge uns noch unmittelbar betreffen, ungefiltert auf uns einwirken, kaum verinnerlicht und von uns nicht wegzudenken sind? Natürlich werden die Nachfolgenden, die auf unsere Zeit zurückblicken, das aussondern, von dem wir selbst uns nicht trennen können, weil wir uns damit selektieren würden; vermutlich werden sie vermeintlich Großes von vermeintlich Geringem unterscheiden und Bezüge zu einer geschichtlich gewordenen Außenwelt herstellen, die heute für uns noch mit der Innenwelt untrennbar verbunden ist.

Wenn Literatur noch nicht Geschichte geworden ist, sondern in der Gegenwart steht (oder sollte man besser sagen: 'die Gegenwart stellt'?), dann sind Impulse noch nicht zu Strömungen verflossen, neue Formgestaltungen noch nicht zu Klassifikationen verfestigt und aus verändernden Gedanken noch nicht '-ismen' gewachsen.

Das hier vorliegende Autorenlexikon der französischen Literatur der Gegenwart scheint vielversprechend zu sein. Es ist eines, das auf die Vielfalt verweist, weil es überzeugt ist, nur Moden ausmachen zu können, wobei es deren Bedeutung unmittelbar zu fassen sucht, ohne sie bis in die Zukunft ermessen zu wollen. Die Auswahl ist daher auf Autoren beschränkt, die noch nach oder seit dem gesellschaftlichen Umbruch der 68er wirk(t)en. Klassiker wie Alain Robbe-Grillet, der Schöpfer des "Nouveau Roman", Georg Perec als Vertreter der Gruppe "Oulipo", Maguerite Yourcenar, die als erste Frau 1980 in die Académie française aufgenommen wurde, Phillippe Sollers, Gründer der Zeitschrift "Telquel" und andere, die bereits außerhalb der literarischen Moden stehen. Sie liefern eine sinnvolle Vorgeschichte der neuen, noch unkanonisierten Werke, auf die der Fokus der Übersicht gerichtet ist.

Der kontrovers diskutierte, massenhaft rezipierte Michel Houellebecq, dessen Name auch in deutschen Feuilletons eine immense Resonanz erzielt hat, ist im Lexikon ebenso zu finden wie die Schock-Autorin Virgine Despentes, die mit "Baise-moi" die bürgerlich-heile Welt erschütterte. Der Kreole Raphaël Confiant, der mit dem Manifest "Eloge de la creolité" als herausragender Kopf 1989 erstmals an die Öffentlichkeit trat, ist neben anderen frankophonen, nicht französischstämmigen Autoren wie der algerischen Friedenspreisträgerin Assia Djebar, der Kanadierin Nancy Houston, dem Ivoirianer Ahmadou Kourouma vertreten. Eine angenehme Ergänzung, die zwar die Bilder auf dem Einband, aber nicht der Titel "Französische Literatur der Gegenwart" vermuten lassen; er wäre treffender mit "Französischsprachige Literatur der Gegenwart" formuliert.

Der formale Mangel, nämlich dass es dem Buch an einem Autorenregister und an Verweisen fehlt, ist in Anbetracht der wirklich konkreten, aufschlussreichen Einsichten in Leben und Werk der ungefähr achtzig besprochenen Autoren kaum zu verzeihen. Die zumeist noch jungen Verfasser schreiben zwar auf unterschiedliche Weise, jedoch verbindet die Artikel die gleiche Fülle an Informationen über Inhalt und Wirkung ihrer Werke sowie über Leben und Selbstverständnis der Autoren. Bibliographien vereinfachen das weitere Nachforschen.

So ist dieses Lexikon ein Buch, das jedem Studierenden und Interessierten der französischen Literatur einen hilfreichen Überblick und vertiefende Einblicke in das Zeitgeschehen der literarischen Welt im französischsprachigen Raum geben kann, ohne es seiner Vielfalt und seines Reichtums zu berauben.

Titelbild

Petra Metz / Dirk Naguschewski (Hg.): Französische Literatur der Gegenwart. Ein Autorenlexikon.
Verlag C.H.Beck, München 2001.
225 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3406459528

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