Ich, die Welt des Angeklagten

Hugo Claus konfrontiert Belgien mit seiner Geschichte und Gegenwart

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Etwas ist faul im Staate Belgien. So faul, dass es eines Tragikers bedarf, die unheilvollen Verflechtungen zwischen Justiz und Verbrechen darzustellen und den Sündenfall von Königshaus und Staatsapparat in Worte zu fassen. Belgien, der Fall Dutroux zeigt es, steckt in seiner größten Staatskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. An die Aufarbeitung seiner jüngsten Geschichte ist noch gar nicht zu denken, und man fragt sich: Was kann, wenn überhaupt, die Literatur dazu beitragen? Kann sie im Verbund der Medien jene vierte Gewalt bilden (helfen), die Licht ins Dunkel der jüngsten Vergangenheit bringt? Kann sie auf jene wirksam zeigen, die das ganze Land vor der Weltöffentlichkeit diskreditiert haben?

Hugo Claus, der 1929 in Brügge geborene Flame, der Dichter und Maler, Mitglied der neoavantgardistischen Künstlergruppe Cobra, der Übersetzer, Drehbuchautor und Regisseur will es offensichtlich wissen. Mit drei Romanen, "Die Gerüchte", "Das Stillschweigen" und jetzt "Unvollendete Vergangenheit", legt er den Finger in die Wunde Belgien. Und der Titel seines jüngsten Romans, der wie ein grammatikalischer Terminus klingt ("Unvollendete Vergangenheit"), signalisiert, dass die Vergangenheit für ihn nicht abgeschlossen, ja nicht einmal vergangen ist.

Claus, ein Tragiker wie Belgien ihn nötig hat, schildert in seinen Büchern einen verfilzten Staatsmoloch, dessen Selbstheilungskräfte erschöpft sind: Schlägt man der Hydra den Kopf ab, schießen zwei neue nach. Und so heißt die Schicksalsfrage: Rückfall in die Welt der monastischen Willkürherrschaft oder Bruch mit der voraufklärerischen Vetternwirtschaft, in der Begünstigung, Bestechung, Korruption und Verdunkelung das Gemeinwesen lahmlegen.

Abhilfe muss von außen kommen; im jüngsten Roman in Gestalt des pensionierten Kommissars Gilbert, der noch dem alten System gedient hat. Schon in seiner aktiven Zeit war er ein Außenseiter, ein Mann mit unfehlbarem Gedächtnis, und jetzt stellt er sich, als Notanker quasi, ohne Ehrgeiz für das eigene Fortkommen ganz in den Dienst der Aufklärung. Gilbert ist ausgestattet mit dem psychologischen Gespür dessen, der alle menschlichen Leidenschaften und ihre mitunter abwegigen Pfade gesehen hat. Ein Mosaiksteinchen nur, und er kann das ganze Bild rekonstruieren: "Übrigens, mir reicht manchmal schon ein halbes Wort. Jahrelang Verhöre geführt. Ob jemand lügt oder die Wahrheit sagt, weiß ich meist, ehe er es ausgesprochen hat."

Gilbert ist der passionierte Wahrheitssucher schlechthin, und Bruder Noël, Ex-Lagerist in einem modernen Schreibwarenladen, sein Gegenspieler. Seit seine Mutter ihn so unglücklich fallen ließ, dass sein Kopf Schaden nahm, gilt Noël als Idiot, kann er nur Hilfsarbeiten annehmen. Noël ist einsam und führt Selbstgespräche, seit ihm seine Frau weggelaufen ist. Seine Neigung zum Selbstgespräch macht sich Gilbert zunutze. Aber eigentlich ist es der erzählerische Kunstgriff von Hugo Claus, die Kunst des Verhörs als mäeutisches Verfahren zu inszenieren, als Frage-Antwort-Spiel, das dem Kommissar wie dem Täter (wie dem Leser) bewusst machen soll, was sie unbewusst schon wissen.

Belgien braucht einen Tragiker, und so lesen sich die Romane von Hugo Claus wie Tragödien. Die Verhör-Situation ist dialogisch strukturiert: sie erfordert immer einen, der zuhört, und einen, der spricht. Nur die langen Monologe Noëls, die sich zur Ich-Erzählung ausweiten, lassen uns mitunter vergessen, dass wir es hier mit einer performativen Sprechsituation zu tun haben, in der die Sprecher-Hörer-Relation durchgängig umkehrbar ist. In Noëls Monologe sind wiederum imaginierte bzw. rekapitulierte Dialoge eingebaut, die den Eindruck des Dramatischen weiter verstärken. Dieser Kunstgriff, die Erzählung ganz und gar in mündliche Rede aufzulösen, unterscheidet Hugo Claus von den anderen großen europäischen Erzählern seiner Zeit. Er macht seine Romane so faszinierend schlank, kompakt und schnörkellos, dass sie wie Konzentrate ihrer selbst erscheinen und dabei leicht lesbar, spannend und psychologisch überzeugend wirken. Ohne weitere Bearbeitung wären sie als Theaterstücke oder als Hörspiele aufführbar - und werden gelegentlich auch als solche realisiert.

Trotz des dergestalt restringierten erzählerischen Kodes gibt es hier scheinbar Überflüssiges. Etwa wenn Noël aus seiner Zeit als Lagerist erzählt und sich umständlich in Einzelheiten verliert, die gar nichts zur Sache tun. Doch sehr rasch wird deutlich, dass das prima facie Funktionslose zu Noëls Charakterisierung viel beitragen kann. Immer mehr wird er zum Spiegel der belgischen Gesellschaft: Einerseits ist er mehr als korrekt, pflichtbewusst und diszipliniert, andererseits nimmt er das Recht selbst in die Hand, als er beschließt... Doch ginge es zu weit, dem Leser hier allzuviel vorwegzunehmen. Noël ist jedenfalls ein Protagonist, wie ihn ein korruptes Staatswesen nicht besser verdient hat, ein System, das Strafverfolgung behindert und in bestimmten Fällen, die bis ins Königshaus reichen sollen, an Verdunkelung und Begünstigung des Täters Teil hat.

Auch das Fachgeschäft, in dem Noël arbeitet, ist ein genauer Spiegel der belgischen Gesellschaft: ein gewinnorientiertes, großzügiges Kaufhaus mit angeschlossener Buchhandlung und Computerabteilung, aber seit Generationen in Familienbesitz und quasi monarchisch geführt. Mijnheer Felix, das Oberhaupt dieser Schreibwarenladen-Dynastie, regiert seinen Laden autokratisch: Von einem erhöhten, thronartigen Sessel aus prüft er die Kassenzettel, döst oder verzehrt er Sahnetorte mit Bitterschokolade und Schlagrahm. Von den Kämpfen freilich, die seine Untertanen derweil austragen, vom Unterschleif, den die meisten von ihnen recht ungeniert begehen, ahnt er nichts. Das kleine Reich des gar nicht so glücklichen Mijnheer Felix ist die ironisch-böse Systemstudie einer anachronistischen Staatsform, in der der Monarch zugleich als oberster Gesetzgeber und Richter fungiert und als solcher kläglich versagt.

Auch die anderen Typen in diesem belgischen Kosmos sind uns bekannt, ja haben im Schreckensszenario von Kinderpornographie und Kindesmord traurige Berühmtheit erlangt: Patrick Dekerpel etwa, zuständig für die Buchhandlung, bekommt Briefsendungen mit anstößigen Fotos - und später einmal die Quittung. Und weil Dekerpel einflussreiche Freunde hat, übernimmt Noël die heikle Mission gleich selbst.

Ein ruhiger, fast elegischer Ton liegt in dieser Prosa. Kommissar Gilbert lässt sich Zeit, geduldig wie Columbo folgt er den verheißungsvollen Spuren. Und dennoch passiert viel in diesem schmalen Roman: Noël weiß davon farbig zu erzählen, und Hugo Claus versteht es, Sprache in seinen Figuren geschickt auszulösen. Hinter der geputzten Fassade des Gemeinwesens (hier einmal im Wortsinne zu lesen) erspürt er den Abgrund. Er reibt sich seit jeher an Belgien, sein ganzes literarisches Schaffen ist Aufarbeitung von Geschichte. Deren Gespenster werden auch hier wieder gerufen, etwa in Gestalt von Noëls Bruder René, der vermutlich als Söldner in Afrika ums Leben kam. Von den politischen Folgen des Kolonialismus wird sich das Land nicht so schnell befreien, wie Claus am Beispiel der kokainsüchtigen, aus Algerien stammenden Judith Latifah illustriert, die einen "Mohammed" zum Freund hat und von einem belgischen Notar um ihr Erbe betrogen wird. Jeder Roman, so schmal er auch sein mag, ist als Panorama angelegt, ein skizziertes Panorama, das gar nicht weiter ausgemalt werden muss, und so ist diese Literatur - auf ihre Art - nicht weniger reich als die große Erzählkunst des 19. und 20. Jahrhunderts.

Titelbild

Hugo Claus: Unvollendete Vergangenheit. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2001.
174 Seiten, 17,10 EUR.
ISBN-10: 3608934952

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch