Schrift an der Wand

Karl Eibl ediert Goethes Gedichte in Handschriften

Von Bernd HamacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Hamacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erst seit den späten siebziger Jahren, beginnend mit der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe, ist es in breiterem Umfang möglich, die philologischen Entscheidungen bei kritischen Ausgaben anhand von Reproduktionen der jeweiligen Manuskriptseiten nachzuvollziehen und dann im Idealfall auch zu überprüfen. Diese Emanzipation der Leserschaft von den Mandarinen der Editionsphilologie hat mit der Faksimile-Ausgabe von fünfzig Gedichten Goethes eine neue Dimension erreicht. Denn der Band ist keine Prachtausgabe für den Goethe-Hausaltar, sondern ein wohlfeiles Taschenbuch, für dessen hohen Gebrauchswert der Name des Herausgebers bürgt: Karl Eibl hat vor über einem Jahrzehnt die mustergültige Edition aller Gedichte Goethes in der Reihe des Deutschen Klassiker Verlages besorgt, und was im Goethejahr 1999 vorgelegt wurde, ist gewissermaßen ein illustrierter Ableger der Gesamtausgabe.

So besteht nun die begründete Hoffnung, dass die von Eibl gesetzten philologischen Standards sich weiter durchsetzen werden, dass also beispielsweise zunehmend weniger "Mahomets-Gesang", sondern korrekt "Mahomets Gesang" zitiert wird. Im Hinblick auf jene Standards ist die Faksimile-Ausgabe der DKV-Edition im Prinzip sogar überlegen, da die textgetreue Transkription der Handschrift die normierenden Kompromissbildungen bei der Schreibung wieder rückgängig macht. Die vorzügliche Wiedergabe der Manuskripte ermöglicht es dabei, die Texttreue auch tatsächlich zu überprüfen: in Vers 69 von "Mahomets Gesang" steht "Schäzze", während Eibl "Schäze" transkribiert; in "Wandrers Sturmlied" wird "seyd" aus der Handschrift zu "seid", "Marck" zu "Mark", und in "Selige Sehnsucht" wird die Korrektur eines Verses nicht transkribiert.

Solche und ähnliche kleinen Fehler müssen niemanden ärgern, sondern sind im Gegenteil dazu angetan, detektivischen Spürsinn zu wecken und die Faksimiles tatsächlich zu lesen, statt sie bloß zu betrachten. Störender sind andere Nachlässigkeiten, die auf eine Flüchtigkeit bei der Endredaktion schließen lassen, welche der optisch äußerst ansprechenden Gestalt des Bandes schlecht zu Gesicht steht: In manchen Fällen, so bei Lavaters Tagebuch der Rheinreise, stimmt die Zeilenzählung im Text nicht mit der in den Anmerkungen überein, und bei den Anmerkungen zu "Warum gabst du uns die Tiefen Blicke" findet sich ein blinder Querverweis auf eine "Einleitung", die sich im vorliegenden Band gar nicht befindet, sondern im Kommentar der DKV-Ausgabe. Damit ist klar, dass die Anmerkungen eine nicht immer mit letzter Sorgfalt hergestellte Kurzfassung des Zeilenkommentars der Gesamtausgabe darstellen. Konfusion herrscht schließlich auch bei der nachgelassenen Römischen Elegie III: In Vers 3 der Handschrift steht die Formulierung "Früchte bringen den Zweig", was in dieser Form keinen Sinn ergibt. In der textkritischen Fußnote vermutet Eibl eine Verschreibung für "Früchte bringe der Zweig", während er die Stelle in den Anmerkungen ohne weitere Erläuterung mit "Früchte bringenden Zweig" zitiert.

Ungerecht wäre es freilich, diese philologischen Details bei der Würdigung des Bandes zu sehr in den Vordergrund zu rücken, der vielmehr den Handschriften selber gebührt. Seit den "Römischen Elegien" schreibt Goethe nicht mehr in deutscher, sondern in lateinischer Schrift, was Eibl in seiner Nachbemerkung mit dem Bekenntnis zur 'Weltliteratur' in Verbindung bringt - und wogegen sich Goethes Mutter gewandt hat mit der Warnung, er solle nicht zum klassischen Schriftsteller werden wie "Horatz" oder "Lifius": "was werden alsdann die Profesoren Euch zergliedern - auslegen und der Jugend einpleuen." Dass dies mit der vorliegenden Ausgabe nicht geschehen kann, dafür sorgt die exzellente Auswahl, die allen Kanonisierungsfallen elegant und souverän ausweicht: Es werden nicht die "schönsten", nicht die "besten", nicht die "wichtigsten" Gedichte und überhaupt keine Superlative versprochen. Stattdessen soll von den frühesten bis zu den letzten Gedichten "das gesamte Spektrum von Schrift und literarischer Gattung" veranschaulicht werden. Entstanden ist eine sehr persönliche und überzeugende Auswahl, die einerseits weitgehend Unbekanntes, dem Klassikerklischee Widersprechendes bringt wie die nachgelassenen, 'priapeischen' "Römischen Elegien" oder auch die "Freuden des iungen Werthers", in denen die Notdurft lyrikfähig wird. Andererseits wird Bekanntes in neue Kontexte gerückt - oder vielmehr in die ursprünglichen, entstehungsgeschichtlichen, denn Goethe nahm bei den Publikationen seiner verschiedenen Gedichtsammlungen zahlreiche Neugruppierungen und Ensemblebildungen vor, die sich seinen aktuellen Interessen und nicht dem Entstehungskontext der Gedichte verdankten.

Gar nicht genug zu rühmen sind daher die Entdeckungen, die der Band ermöglicht. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet das intime "Tagebuch"-Gedicht nicht durch ein eigenhändiges Manuskript Goethes, sondern in einer Handschrift Friedrich Wilhelm Riemers überliefert ist? Überdies ist erstaunlich, wie wenig sich Riemers Handschrift auf den ersten Blick von derjenigen Goethes unterscheidet. So wird die historische Differenz unmittelbar vor Augen geführt: Weder unser heutiges Verständnis von Intimität noch die heute geläufigen Vorstellungen von der Individualität der Handschrift können ohne weiteres um zwei Jahrhunderte zurückprojiziert werden. Auch der Anschein von Authentizität, den die Faksimiles vermitteln, wird wirkungsvoll verfremdet durch die Wiedergabe des von Eibl als "höchst dubios" bezeichneten Textzeugen von "Über allen Gipfeln ist Ruh". Goethe schrieb das Gedicht nach eigener Aussage am Abend des 6. September 1780 an die Wand der Jagdhütte auf dem Kickelhahn bei Ilmenau. Die Schriftzüge wurden mehrfach nachgezogen, bevor die Hütte 1870 abgebrannt ist. Die Fotografie der Hüttenwand erhält vor diesem Hintergrund geradezu mythischen Charakter und erinnert doch gleichzeitig ganz nüchtern an die unhintergehbare Medialität von Schriftträger und Schreibprozess.

So bleibt nur zu wünschen, dass der Verlag uns weitere handschriftliche Entdeckungen ermöglicht und diese dann auch mit der erforderlichen Sorgfalt lektoriert.

Titelbild

Johann Wolfgang von Goethe: Gedichte in Handschriften. Fünfzig Gedichte Goethes. Ausgewählt und erläutert von Karl Eibl.
Insel Verlag, Frankfurt a. M./Leipzig 1999.
286 Seiten, 9,60 EUR.
ISBN-10: 3458338756

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