Conradys größtes Gedichtbuch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der renommierte Kölner Literaturwissenschaftler Karl Otto Conrady, der in diesem Jahr seinen 75. Geburtstag feierte, hat sich schon Monate vorher sein größtes Geschenk selbst präsentiert: "Das große deutsche Gedichtbuch", 1977 erstmals erschienen, in der Fassung von 1991 der alt- und mittelhochdeutschen Lyrik beraubt, ist in der neuesten Version auf einen Umfang von 1.300 Seiten gewachsen. Das "Wessobrunner Gebet", die "Merseburger Zaubersprüche" oder die Lieder Walther von der Vogelweides sind nun wieder dabei, jeweils auch in Übersetzungen, und der Anteil der Gegenwartsliteratur ist enorm gestiegen. Hatten 1977 etliche Verlage der DDR die Lizenz für 'ihre' Autoren noch verweigert, so scheint es inzwischen nur noch ein einziges Hindernis zu geben, erwünschte Texte aufzunehmen: zu hohe Honorarforderungen. Der von Conrady durch namentliche Nennung und Ausschluss bestrafte Wolf Wondratschek würde vermutlich einwenden, das Angebot sei zu niedrig gewesen.

War es Mut oder Mangel an Mut, der Literatur nach 1945 bis hin zur "Slam Poetry" neuesten Datums einen so breiten Raum zu geben? Man macht sich als Anthologist wohl nicht gerne Feinde unter den Lebenden. Und es besteht prinzipiell die Gefahr, unter den jüngsten Autorinnen und Autoren einen künftigen Klassiker zu verkennen. Die Zeiten, in denen weltfremde und gegenwartsflüchtige Literaturwissenschaftler erst einen toten Autor für einen wirklich beachtenswerten Autor hielten, sind zum Glück weitgehend vorbei. Doch ein Drittel des Buches den letzten fünfzig Jahren zu reservieren und die beiden anderen Drittel den tausend Jahren davor, verschiebt die angemessenen Proportionen erheblich. Dahinter steht freilich das bekannte Dilemma: Literarische Qualität gibt sich meist erst langfristig zu erkennen, und Literaturwissenschaftler stehen wie alle anderen Leser in der Konfrontation mit der Gegenwart einer Überfülle noch nicht kollektiv und gnädig vergessener Texte gegenüber.

Im Vorwort erinnert Conrady daran, dass Kunst und Literatur ein Spiel sein können, "spielerische Erprobung von Verhaltens- und Empfindungsweisen wie spielerisches Umgehen mit dem Material der verschiedenen Künste." Auch Anthologien können, ähnlich wie Listen kanonischer Werke, als Spiel begriffen werden, als Einladung zum Widerspruch gegen die Auswahl, als Provokation zu Gegenentwürfen, als Medien der Konsens- und der Dissensbildung darüber, welche Texte tradierenswert sind oder nicht. Der Reiz des Spiels steigt mit den Risiken begrenzter Auswahl. So ist "Das große deutsche Gedichtbuch" zwar noch größer geworden, doch als Angebot zum Spiel hat es an Spannung nicht gewonnen.

Gleichwohl ist die Fülle der angebotenen Gedichte eindrucksvoll. Sie lädt weniger zum Streit um die richtige Auswahl als zu Entdeckungen ein. Das Buch versteht sich ausdrücklich nicht als Sammlung kanonischer Gedichte "'ewiger' deutscher Poesie zu gefälliger Erbauung und Gemütsergötzung", sondern "hofft vielmehr auf das Interesse der Leser, sich auch auf Unvertrautes und Überraschendes einzulassen und gewisse Herausforderungen anzunehmen." Editionsphilologische Maßstäbe sollte der Leser dabei an dieses Buch nicht anlegen. Sonst wäre, was Datierungen, Quellenangaben, Textgestalt, Kommentare und Anordnung angeht, von einem "Desaster" oder "Chaos" zu sprechen. Die Alternative wäre wohl gewesen, auf den "Neuen Conrady" zu verzichten. Da finden wir uns doch lieber mit den Unzulänglichkeiten ab.

Titelbild

Karl Otto Conrady (Hg.): Der neue Conrady. Das große deutsche Gedichtbuch.
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2000.
1307 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3538068941

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