Feuerengel, unfreiwillig auf Erden

Luigi Pirandellos Leben und Werk

Von Pia-Elisabeth LeuschnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pia-Elisabeth Leuschner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pyr-angelos - aus dieser griechischen Etymologie pflegte er, nicht ohne Koketterie, seinen Nachnamen herzuleiten und die sprechende Bezeichnung jenes kleinen sizilianischen Landgutes hinzuzusetzen, auf dem er geboren ist: Kaos. Als 'Feuerengel aus dem Chaos' hat Luigi Pirandello tatsächlich gewirkt, für die literarische Moderne und noch für die Postmoderne, die ihn als einen der ihren avant la lettre einklagt. In Deutschland ist er spätestens seit den 1920er Jahren ein Begriff, nachdem sein bis heute bekanntestes Drama "Sechs Personen suchen einen Autor" 1921 in Berlin eine bahnbrechende deutsche Uraufführung unter Max Reinhardt erlebte und 1925 eine Flutwelle von 107 Premieren auf deutschsprachigen Bühnen nach sich zog.

Seit dem letzten Jahr liegt nun Pirandellos Werk beim Propyläen-Ullstein Verlag in einer ersten deutschen Gesamtausgabe von 16 Bänden vor (nach den beiden bereits umfangreichen Ausgaben aus den 20er und den 80er Jahren), initiiert, herausgegeben und mitübersetzt von Michael Rössner: eine editorische Leistung, die sich der deutsche Buchmarkt zur Ehre anrechnen darf. Es wäre kleinliche Beckmesserei, diesem Großprojekt die a-chronologische Anordnung der Werke oder die stilistische und auch qualitative Heterogenität der Übersetzungen anzulasten. Die Ausgabe schließt mit einem im letzten Jahr erschienenen Band zu Pirandellos Leben von Michael Rössner. Er folgt einem zugleich ansprechenden und informativen Aufbau: in den einzelnen Kapiteln schildert Rössner zunächst selbst die biographischen Fakten einer bestimmten Lebensphase Pirandellos, dann wird mit jeweils knappen Erläuterungen eine repräsentative Auswahl Pirandellianischer Lebensdokumente angeschlossen. Darunter finden sich auch - als besonders schätzenswerte Rarität - erstmals Übersetzungen von Auszügen aus Pirandellos Lyrik, von deren Bestehen man in Deutschland vielfach noch nicht einmal weiß.

Oberflächlich verläuft Pirandellos Leben durchaus im sicheren Rahmen bürgerlicher Normalität: 1867 bei Agrigent auf Sizilien geboren, flieht er vor den Drangsalen des elterlichen Hauses und des familieneigenen Schwefel-Abbaus zum Literaturstudium zunächst nach Palermo und Rom und 1891 weiter zu einer Promotion nach Bonn. Dort kommt Pirandello mit dem Denken und Schaffen der deutschen Romantiker in Berührung (inwieweit er sie allerdings selber liest, ist bis heute umstritten; sicherlich jedoch kannte er Tiecks Dramen). Vor allem die Freizügigkeit des rheinischen Karnevals erlebt er als veritablen Kulturschock. Eine seiner Karnevalspartnerinnen, Jenny Schultz-Leander, wird Pirandellos erste große Liebe, und dieser Beziehung sowie der erlittenen Spannung von nebligem Rheinland und sonnigem Italien verdanken sich zahlreiche seiner frühen lyrischen Versuche. Daneben enthält Rössners Dokumentation die rührende, in unbeholfen antiquiertem Deutsch abgefasste Widmung eines Gedichtbandes an diese Geliebte, die Pirandello er scherzhaft seine 'Riesin' nennt. In Italien schickt er sich 1894 in eine Zweckheirat, um seiner Familie den finanziellen Ruin zu ersparen. Die Ehefrau - Antonietta - erleidet 1904 einen psychischen Zusammenbruch: Paranoia, Schizophrenie. 1919 muß Pirandello sie schließlich in eine Anstalt geben und kommt so zu eigener Erfahrung dessen, was er in seinem Drama "Enrico IV" (1922) verarbeiten wird. Er selbst verdient seinen Unterhalt durch journalistische Arbeit und durch Unterricht als Professor für Stilistik an einem Lehrerbildungsinstitut, von dem er schreibt: "ich unterrichte dort leider". Im April 1925 ermöglicht es ihm die Unterstützung Mussolinis, dessen faschistischer Partei er schon 1921 beigetreten ist, ein eigenes Teatro d'Arte in Rom zu gründen. Als das Theater 1928 aus finanziellen Gründen schließen muss, zieht Pirandello zunächst nach Berlin und, nachdem sein Stück "Heute abend wird aus dem Stegreif gespielt" dort einen Theaterskandal auslöste, über Paris zurück nach Italien. 1934 Nobelpreisträger geworden, stirbt er 1936 in Rom.

Welche geistigen Abgründe sich in diesem zwar von einigen Schicksalsschlägen gezeichneten, aber nicht eigentlich subversiven oder revolutionären Lebenslauf auftun, machen erst die der Biographie beigegebenen Dokumente deutlich. Die Briefe zeigen einen manisch Depressiven, mit sich selbst im Unreinen, der etwa zugleich seine abgekartete Vernunftehe ätzend satirisiert und sich für die ihm solcherart bestimmte Frau in eine Art Geistes-Liebe hineinsteigert, sie als Katalysatorin einer gelungenen Vereinigung von Liebe und Kunst feiert und ihr in der Verlobungszeit bekennt: "Nach meiner dunklen Verirrung im Labyrinth des Kunstschaffens bist du meine Sonne, mein Frieden und mein Ziel".

Vor allem die Lyrik fesselt das Interesse, da sie die später in den Romanen entfalteten zentralen Themen des Pirandellismus in nuce enthält: das Rätsel der Person und die Ambiguität von Wahrheit und Wirklichkeit, die Zersetzung des In-Dividuums bzw. dessen Ersetzung durch einer Subjektskonzeption, wonach jeder Mensch "Einer, Keiner, Hundertausend" ist, wie es im Titel eines seiner großen Romane heißt. Das taedium vitae und Nachwirkungen des Symbolismus stehen in diesen Texten neben Momenten eines panischen, an D'Annunzio erinnernden Aufgehens in der Natur. Bald reißt sich das Ich in radikalem Lebensekel seine menschenfreundliche Maske vom Gesicht und schleudert sie von seiner Position moralischer Überlegenheit herab in den Schlamm der korrupten, vor allen Autoritäten buckelnden Menschheit; bald entgrenzt es sich in einem 'magischen Augenblick': "Hier ist der Siegeschor, / der wunderbare Chor / der Formen der Wirklichkeit, / mächtig in ihrer / Ganzheit des Lebens. / [...] / und machtvoll werde ich ergriffen / und geb' mich dem Ganzen hin, / und werde Teil des Ganzen: / sterblich Dinge schreib ich nicht / denn jetzt fühl' ich Unendlichkeit / ich fühl' die Ewigkeit - und lebe." Bald schildern elegische Distichen in "Rheinischen Elegien", inspiriert durch eine Übersetzungsarbeit der Goetheschen "Römischen Elegien" ins Italienische, den Würgegriff des Rheinlandnebels um einen depressionsanfälligen Geist; bald nehmen wendige Kurzverse mokant die verlachenswerten Maskerade- und Schminkversuche alternder Hässlichkeit oder auch blasphemisch die lebensfeindliche Moral des Katholizismus aufs Korn.

Und während Pirandellos spätere Theorie des 'Humors' in allem Verlachenswerten auch das Bemitleidenswerte sieht und der Verfasser der Novellen und Dramen das Rollenspiel zum Exzess treibt, zeigt die Lyrik auf einmal die 'nackte Maske' dessen, der seine Phantasie als tödlich zersetzende Kraft erleidet. Zwar besagt gerade dieser Begriff der 'nackten Maske', den Pirandello selbst für sein Gesamtwerk als Titel gewählt hat, dass auch diese Stimme des Lyrikers noch und nur eine Maske unter anderen ist. Gerade als solche aber verdiente sie in Deutschland längst als Ergänzung zu den Dramen und Romanen wahrgenommen zu werden. Dabei sollte diese erste Eindeutschung der Gedichte nur ein Anfang, ein Wegbereiten weiterer kreativer Aneignung hierzulande sein: Rössner, dessen übersetzerische Stärken in der Prosa liegen, bringt Pirandellos stark traditionsverpflichtete, oft Carduccianisch solemne Reime - abgesehen von den nicht immer glücklichen Nachbildungen der elegischen Distichen - in eine zwar griffige und tendenziell rhythmisierte Interlinearversion, aber diese Wiedergabe in ungebundenem Vers und die Verteilung von Pirandellos großen hypotaktischen Bögen auf Kurzsätze tilgen die Diskrepanz, welche die Originale entscheidend charakterisiert: dort kontrastiert handwerklich solide, formale Traditionalität mit den subversiv zukunftsweisenden Thematiken. Die Übersetzungen nähern die Gedichte Pirandellos Prosa an - nicht umsonst sieht Rössner in den späteren Jahren, in denen der Autor keine Lyrik mehr verfasst, eine unmittelbare 'Fortsetzung' der Gedichtimagination in lyrischer Prosa. (Bei einer Neuauflage wären, nebenbei bemerkt, einige orthographische und Interpunktionsfehler zu bereinigen.)

Pirandello selbst sagte von sich: "Das Leben schreibt man, oder man lebt es, ich habe es geschrieben." Eben indem die deutsche Gesamtausgabe dieses geschriebenen Lebens mit Rössners Lebens-Beschreibung abschließt, wird sie zu einem faszinierenden und bei all seiner Unheimlichkeit aufsuchenswerten Raum für eine Begegnung mit dem sizilianischen Feuergeist.

Titelbild

Luigi Pirandello: Informationen über meinen unfreiwilligen Aufenthalt auf der Erde. Leben und Werk erzählt von Michael Rössner.
Propyläen Verlag (Ullstein), Berlin 2000.
431 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3549055455

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