Der Porträtist wird nachlässig

Marcel Reich-Ranicki schreibt über Bertolt Brecht

Von Torsten GellnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Gellner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Einen Streit um Brecht gibt es heute nicht mehr: Bald vierzig Jahre nach seinem Tod braucht man ihn, der einst die Gemüter erhitzte, nicht mehr zu verteidigen. Denn niemand greift ihn an." Als Marcel Reich-Ranicki diese Worte anlässlich des 50. Jubiläums des Aufbau Verlages im September 1995 formulierte, da ahnte er nicht, dass das Gezerre um den Dichter noch lange nicht zu Ende sein sollte. Denn schon kurze Zeit später erschien in Deutschland John Fuegis streitbare 'Enthüllungsbiographie' "Brecht und Co.", die den Dichter als schamlosen Plagiator und Nutznießer seiner Mitarbeiterinnen darstellte, die oft auch seine Lebensgefährtinnen waren. Also kam es doch noch zu einer erneuten Schlacht um Brecht, gerade rechtzeitig zum 100. Wiegenfeste des Poeten.

Reich-Ranickis Einschätzung erweist sich gleichwohl als zutreffend: "Und wir können heute besser denn je erkennen, dass der Begriff 'klassisch', der, eine Charakteristik und eine Definition anbietend, stets auch auf die Rangordnung abzielt, ihm wie keinem anderen Poeten unseres Jahrhunderts gebührt." Der Staranwalt der deutschen Literatur hat sich jedenfalls Zeit seines Schaffens gebührend diesem Klassiker gewidmet und eine Auswahl seiner literarkritischen Auseinandersetzungen mit Bert Brecht in dem Band "Ungeheuer oben" zusammengestellt. Eine erweiterte Taschenbuch-Neuausgabe dieses Portraits ist nun beim Aufbau Verlag erschienen, wobei sich die "Erweiterung" allerdings in Grenzen hält: lediglich eine kleine, bisher unveröffentlichte autobiographische Note Reich-Ranickis wurde vorangestellt, dazu gesellt sich ein bislang bereits mehrfach veröffentlicher Essay mit dem schlagenden Titel "Brecht war kein Brechtianer".

In diesem 1973 für "Die Zeit" verfassten Artikel stellt Reich-Ranicki den Selbstdarsteller Brecht dem Selbstentlarver Brecht auf der Grundlage von Aussagen seines Arbeitsjournals gegenüber. Denn in den oft hastig und nachlässig niedergeschriebenen Eintragungen könne man den "wirklichen Brecht" ausmachen, also den nicht-autorisierten, unverfälschten Dichter. Brechts Intoleranz gegenüber anderen Schriftstellern wird in diesem Essay ebenso deutlich hervorgehoben wie die Arbeitsatmosphäre in seiner Werkstatt. Seine Sicht der Gesellschaft war dabei immer die des Theaterautors. Als dem Autor sein Stück "Der gute Mensch von Sezuan" zu lang erschien, kam als gesellschaftspolitische Konsequenz für ihn nur eine "kürzung der arbeitszeit" in Frage, selbst die Mittagsstunden sollten für Theaterbesuche freigehalten werden. Reich-Ranickis gewitzte Paraphrase dieser halb scherzhaft, halb ernst gemeinten Forderung: "Die Brechtianer wollen ein Theater, das die kommunistische Gesellschaft ermöglichen soll, Brecht will die kommunistische Gesellschaft, damit sie sein Theater ermöglicht."

In seinem Aufsatz "Er und seine Kreatur" zeichnet Reich-Ranicki die Beziehung zwischen Brecht und Ruth Berlau nach, die er als "märchenhaft und wahnsinnig" charakterisiert. Die vermögende Professorengattin war nicht zuletzt ihrer hervorragenden Kontakte wegen eine attraktive Partnerin für Brecht, eine spendable dazu. In der isolierten Exilsituation fand Brecht in ihr, was er von Berlin gewohnt war - eine "ideale Zuhörerin". Sie, die ihre Briefe an den Meister gern mal mit "Deine Kreatur" unterzeichnete, wurde von Brecht ebenso gebraucht wie verbraucht. Seine Parabel "Me-ti", die Reich-Ranicki in diesem Kontext anführt, bringt es auf den Punkt: Der Apfel, heißt es darin, "erwirbt seinen Ruhm, indem er gegessen wird."

Da die Beiträge zu diesem keineswegs lückenlosen Brecht-Portrait allesamt autonom entstanden sind, liegt es in der Natur der Sache, dass es von Text zu Text Überschneidungen gibt und dass aussagekräftige Zitate wie "Ich beobachte, dass ich anfange, ein Klassiker zu werden" wiederholt verwertet werden, wie ja auch die Aufsätze selbst mehrmals veröffentlicht worden sind. "Ungeheuer oben" ist also in jeder Hinsicht eine ertragreiche publizistische Mehrfachverwertung, was die inhaltliche Qualität indes keineswegs schmälert. Was allerdings ein echtes Ärgernis darstellt, ein vermeidbares zumal, ist das völlige Fehlen von Zitatnachweisen. Das verwundert, denn im Nachwort zu seinem Buch "Anwälte der Literatur" (1994) ist es Marcel Reich-Ranicki höchstpersönlich, der ein berechtigtes Plädoyer für genaue Quellenangaben anstimmt und jene Autoren als "Faulpelze" bezeichnet, die sich um die mühevolle editorische Kleinarbeit drücken. Nun ist Reich-Ranicki selbst so ein bequemer und nachlässiger Drückeberger, aber nebenbei noch ein amüsanter und gnadenlos guter Porträtist.

Titelbild

Marcel Reich-Ranicki: Ungeheuer oben. Über Bertolt Brecht.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2001.
160 Seiten, 8,10 EUR.
ISBN-10: 3746680646

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