Täuschung, Lüge, Illusion

Stefan Voigt untersucht die Welterfahrung im Spätwerk Arno Schmidts

Von Alexis EideneierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexis Eideneier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Dichter lügen, wissen wir spätestens seit Platon. In seiner ebenso anregenden wie wohl fundierten Berliner Dissertation beweist Stefan Voigt, dass auch der späte Arno Schmidt ein Meister im Schwindeln war. Der Verfasser erweist sich dabei als ein ausgezeichneter Schmidt-Kenner, der zudem literaturtheoretisch versiert ist: ein seltener, ein glücklicher Fall.

Mit dem Gesichtspunkt der Weltwahrnehmung und Welterschließung untersucht die vorliegende Arbeit einen zentralen Aspekt, der in der bisherigen Forschung kaum Beachtung gefunden hat. Weil es weder 'richtige' noch 'falsche' Interpretationen geben kann, wendet sich Voigt zunächst gegen den üblich gewordenen "Fanatismus" einsinnigen Dechiffrierens und widmet sich stattdessen dem Kunstwerkcharakter fiktionaler Texte. Die Befreiung von interpretatorischen Vorgaben ermöglicht ihm einen unvoreingenommenen Blick auf Schmidts Spätwerk, der bislang übergangene Strukturmerkmale aufspürt.

Unter dem Titel "Selbstexplikation als Textstrategie" vollzieht das wegweisende erste Kapitel einen radikalen Bruch mit einer Tradition der Schmidt-Forschung. Die Misere, so Voigt, ist bereits in Schmidts Texten angelegt. Denn die erklären sich scheinbar von selbst, indem sie durch zahlreiche Hilfen zu einer vorschnellen Deutung animieren. Zudem stehen die Ausführungen in Schmidts programmatischen Texten in engem Zusammenhang mit der Umsetzung in seinen fiktionalen Werken. Aus dieser Textstrategie der "Lesergängelung" resultieren naive Lesemodelle, die entweder auf der Suche nach dem empirischen Autor biografisch vorgehen oder einem selbstexplikativen Rückkopplungsmechanismus unterliegen: So beschränkt sich ein Großteil vorhandener Sekundärliteratur auf die von Schmidt ausdrücklich thematisierten Textelemente und überführt die begrifflichen Prämissen des Meisters kritiklos in pseudowissenschaftliche Argumentationen. Derartigen Zirkelschluss-Kritiken entgehen notwendigerweise Brüche und Leerstellen der Erzählfiktion. Daher empfiehlt Stefan Voigt künftigen Deutungen eine Loslösung von der Selbstexplikation in Form einer weniger autortreuen Lektüre. Die vorliegende Studie beweist konsequent, dass eine Emanzipation von Handreichungen des Autors sehr wohl möglich ist.

Lässt sich die Welt in Schmidts Frühwerk noch unverfälscht abbilden und präzise vermessen, so ist diese Art des authentischen Schreibens im Spätwerk unmöglich geworden. Inzwischen haben der allgemeine Kulturverfall, die Macht der Medien und die Bedrohung durch eine atomare Apokalypse derart zugenommen, dass die Welt in der Auflösung begriffen ist, ja sich einer konformen Wiedergabe regelrecht entzieht. Deshalb werden Wirklichkeiten im Spätwerk nicht mehr reproduziert, sondern konstruiert. An die Stelle der bürokratischen Landvermesser, der exakt kalkulierenden Astronomen und der pedantischen Beamten des Frühwerks treten nun Lügner, Zauberer, Gaukler und Märchenerzähler. Es werden nicht mehr Tatsachen abgebildet, sondern falsche Tatsachen vorgespiegelt.

Wie der Verfasser nachweist, überlagern sich in "Zettel's Traum" noch beide Wahrnehmungsmodelle: Daniel Pagenstechers scheinbar naturwissenschaftliches Weltbild ist in Wahrheit illusionistisch. In den folgenden Typoskripten dominiert eindeutig der Weltverlust, die Realität entwickelt sich zum Gegensatz der eigenen Wahrnehmung. Mythen, Maskeraden, Träume und Utopien gewinnen als alternative Wirklichkeiten an Bedeutung und werden schließlich allein bestimmend. Ob in Kolderups Lügengebäuden in "Die Schule der Atheisten", ob in den Wolkenreichen von "Abend mit Goldrand" oder in den Gemäldewelten der "Julia": Voigt zeigt, dass Arno Schmidts Spätwerk als eine "literarische Version der Wahrnehmungstheorie des radikalen Konstruktivismus" gelesen werden darf: Was wir Wirklichkeit nennen, ist in Wahrheit ein neurophysiologisches Konstrukt, das stark vom jeweiligen Subjekt abhängig ist.

So überzeugend und einleuchtend diese These im Hinblick auf Schmidts Spätwerk ist, so interessant wäre eine Untersuchung der Welterfahrung in den (zumindest größtenteils) realitätsabgewandten Texten seines frühen und mittleren Werks gewesen: "Schwarze Spiegel, Tina oder über die Unsterblichkeit, Goethe und einer seiner Bewunderer, Die Gelehrtenrepublik, Kaff auch Mare Crisium." Dass Schmidt bereits in diesen und einigen anderen Werken den Boden der Tatsachen verlassen hat, klammert Voigt in seiner Dissertation aus. Dabei wäre die Frage, worin sich das Geflunker des frühen von dem des mittleren und dem des späten Werks unterscheidet, im Zusammenhang dieser Arbeit durchaus interessant gewesen. Denn der Realitätsverlust in der Prosa Arno Schmidts hat sich nicht unbedingt streng linear vollzogen. Zwischen naturgetreuer Abbildung einerseits und illusionistischen Traumtänzen andererseits liegen bei Schmidt zahlreiche Schattierungen von realistischer Fantastik und fantastischem Realismus. Aufgrund ihrer eigenständigen, originellen Interpretation des Spätwerks und ihres entschlossenen Abschied von autorgeleiteten Lesemodellen ist diese verdienstvolle Studie trotzdem unverzichtbar für alle, die sich ernsthaft mit Schmidts Werk beschäftigen wollen.

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Stefan Voigt: In der Auflösung begriffen. Erkenntnismodelle in Arno Schmidts Spätwerk.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 1999.
325 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3895282391

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