Vom treibenden und getriebenen Zivilisationsliteraten

Stefan Ringel besichtigt das Leben Heinrich Manns

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn man Autobiographien als Selbst(zu)schreibungen, als Lesarten des eigenen Lebens, verstehen mag, dann sind Biographien, die mitunter gelungenen, häufig jedoch misslungenen Lesarten anderer, die diesem Leben kritisch oder apologetisch, aber immer deutend und nicht selten selbstherrlich gegenüber treten. Kein Wunder also, dass die Biographie ein gleichsam populäres wie belächeltes Genre ist. Dennoch darf sie als die vielleicht letzte literarische Gattung gelten, die sich einer unvermindert großen Beliebtheit erfreut. Unbeeindruckt von Prämissen der Literaturkritik und akademischen Diskurs-Moden betreiben die Biographien-Schreiber ihr Geschäft mit der unendlichen Lust der Leser auf das Innen-Leben historischer Prominenzen. Dabei suchte vor allem der französische Poststrukturalismus gerade eine andere Lust zu dekretieren: die "Lust am Text", die als modus vivendi den "Tod des Autors" zur Voraussetzung hatte und diesen nur noch als Schnittmenge linguistischer, soziologischer und psychologischer Diskurse betrachtete.

Dass diese literaturtheoretischen Überlegungen beklagenswerter Weise dem robusten Konservativismus der meisten Biographen nichts anzuhaben vermochten, belegen jüngste Versuche, jene Randzonen zu erkunden, wo Leben und Legende sich zu einem unentwirrbaren Knäuel verknoten. Die gattungsbedingte Zwielichtigkeit zwischen Roman und Geschichtsschreibung paart sich dabei nicht selten mit dem grundsätzlichen Verzicht auf innovative Erzählstrategien und macht deutlich, dass es in diesem Genre scheinbar auf alles andere ankommt, nur nicht auf Poetik. Ausgesprochen wenige Biographen experimentieren in ihren Texten mit postmodernen Stilmitteln oder versuchen, die teleologischen Vorgaben der Gattung zu unterlaufen, indem sie ihrem Material mit Skepsis und Selbstironie auf den Leib rücken. Trotz aller (berechtigten) Unkenrufe gibt es unter den Tausenden von jährlichen Neuerscheinungen auf dem Biographien-Markt aber auch solche artistischenLeistungen zu bewundern. Zu denken wäre etwa an einige Glanzstücke der biographie intellectuelle: John Felstiners "Paul Celan: Poet, Survivor, Jew", Jean Bollacks "L'Ecrit. Une poétique dans la poésie de Celan", die kongeniale Arbeit "Jacques Derrida - par Geoffrey Bennington et Jacques Derrida", Nicholas Boyles Goethe-Biographie oder auch Ian Kershaws zweibändige Hitler-Biographie. Dieser kurze Befund mag Sigrid Löfflers jüngst geäußerte Ansicht stützen, die "das Geschäft des seriösen Biografien-Schreibens" nicht zu Unrecht als "anglo-amerikanisches Monopol" deutete. Dennoch brauchen sich auch deutsche Autoren nicht gänzlich zu verstecken, wie nicht zuletzt Hermann Kurzkes grandiose Thomas Mann-Biographie zeigt.

Damit erschöpfen sich nun zwar noch nicht die rühmenswerten Ausnahmen, aber nolens volens sind wir schon mitten im eigentlichen Thema der folgenden Ausführungen. Denn anzuzeigen ist ein Text, der handwerklich weitestgehend ordentlich gestrickt ist, es aber mit begrifflichen Prämissen nicht allzu genau nimmt und dabei ungeniert auf den genuinen "Wahrheitsanspruch" der Geschichtsschreibung rekurriert.

Stephan Ringel zeichnet Heinrich Mann nicht als überragenden Schriftsteller, wohl aber als einen Intellektuellen, der sich selbst in den historischen Kontext des 19. und 20. Jahrhunderts eingeschrieben habe. Dabei misslingt die angestrebte epische Verschränkung von Person und Zeit, von Text und Kontext leider recht häufig, die chronologische Schematisierung des Lebens ist zu starr angelegt und wird mitunter hyperakribisch abgearbeitet. Besonders ärgerlich ist der stete, selten kritische Rekurs auf Manns Autobiographie "Ein Zeitalter wird besichtigt", der mit moralistischen Versatzstücken angereichert wird, etwa wenn Ringel zu Beginn hilflos ausführt: "Was kann der Biograf noch ergänzen, was der Autobiograf nicht selbst in dieser Hinsicht schon geleistet hat? Den Menschen in seiner Zeit, weniger die Zeit in Sicht dieses Menschen, darzustellen, muss die Aufgabe nun sein. Der Mensch Heinrich Mann soll - stärker als er dies selbst tat - in diesem Buch in den Vordergrund treten. Denn auch dies ist eine humane Tat: Nur in der Begegnung und Auseinandersetzung mit anderen Menschen erfahren wir uns selbst als menschliche Wesen, erkennen wir uns in unserer Gemeinschaft und lernen die individuellen Unterschiede zu akzeptieren. Menschsein heißt ein Individuum zu sein. Die Individualität ist das Gemeinsame: In der Anerkennung, dass jeder ein Besonderer ist, liegt das Verbindende." In diesem Zusammenhang erinnert Ringel an einen aus Manns Autobiographie stammenden "Leitfaden", den sich dieser "für den Umgang mit anderen Menschen" angeeignet habe: "Der Zweifel macht höflich. Man will nicht immer recht haben, und man achtet die Schwächen anderer." Diese Selbstzuschreibung untermauert Ringel mit homiletischen Axiomen, die in Lessings "Nathan" besser aufgehoben waren, zumal dieser sein Aktionsfeld, das Theater, mit einer guten Portion Selbstironie als "meine alte Kanzel" bezeichnen konnte. Anders als Ringel, dessen moralische Imperative schwer erträglich wirken. Einer von vielen sei genannt; im einleitenden Kapitel heißt es: "Jedes Individuum ist zwangsläufig unvollkommen. Glaube niemand die Wahrheit zu besitzen, bezeuge jeder eine liebevoll-ironische Skepsis gegenüber sich wie gegenüber dem anderen. Nur dann wird es ihm möglich, gerecht gegenüber dem anderen zu sein."

Trotz dieser offenkundigen Schwächen sollen die sicherlich auch nicht geringen Verdienste Ringels genannt werden. Deutlicher und kenntnisreicher als viele Arbeiten vor ihm legt er die Konturen eines stets prekären Künstler-Lebens frei, das häufig im Strom des Zeitgeistes schwamm, gleichzeitig aber auch selbst in das große Rad der Geschichte greifen und treibend wirken wollte. Gerade deshalb, so Ringel, lohne sich der Blick auf das Schicksal Heinrich Manns, in dem sich die Erschöpfung des Bürgertums verrate. Es waren weniger geniale Züge, sondern die Sehnsucht nach einer die Aussichtslosigkeit verdrängenden Existenz als Schriftsteller, die ein Werk anregte, das immer wieder der ideologischen (Neu-) Orientierung bedurfte. Der Ruhm, schreibt Heinrich Mann 1905, als er noch zu den erfolglosen Autoren zählte, sei selten mehr als "ein weit verbreiteter Irrtum über unsere Person". Später, in den Jahren der Weimarer Republik, als er durch günstige Umstände rasch und freilich nicht grundlos zu einem der meistgeachteten zeitgenössischen Schriftsteller aufstieg, hat er den lang ersehnten Ruhm gern akzeptiert, ohne zu fragen, ob er vielleicht auf die von ihm sonst bedauerten Missverständnisse und Irrtümer zurückzuführen sei. Dennoch war das Verhältnis einiger bedeutender Schriftsteller zu Heinrich Mann auch in dieser Zeit zumindest zwiespältig und oft nicht frei von erstaunlicher Unaufrichtigkeit. Viele, die seine politischen Ansichten teilten und ihn als öffentliche Figur akzeptierten und befürworteten, machten um seine nach dem "Untertan" geschriebenen Bücher nicht selten einen großen Bogen. Unverblümter meldete sich da schon Hugo von Hofmannsthal 1926 in einem Brief an Willy Haas, den Herausgeber der "Literarischen Welt" zu Wort: "Nach Jahren nahm ich wieder einmal etwas von ihm in die Hand: eine Erzählung Liane u. Paul. Das ist doch gar nichts als lumpiges Litteratentum, weder Gestaltung, noch Talent, noch Geist, noch Anstand; sujet und Haltung (mehr Allure als Haltung) copiert von Wedekind, einzelnes abgestohlen von Strindberg, das Ganze so flau und schal und gemein und dumm wie nur möglich? Warum toleriert man solche Figuren? [...] Warum liest man nie ein wahres Wort über einen solchen Litteraten? Warum sind alle diese Zustände bei uns so verlogen?"

Jean Améry, der in den siebziger Jahren nicht müde wurde, um Verständnis für Heinrich Mann zu werben, meinte vorwurfsvoll, die Deutschen hätten ihn weder wiedererkannt noch wiederentdeckt: "Man zieht - im besten Fall! - den Hut und macht sich davon auf leisen Sohlen." Und warum? "Dieser Dichter und Pamphletist hat den Deutschen zu viele und zu einfache Wahrheiten gesagt." Deshalb beantragte Améry "ein intellektuelles und politisches Wiedergutmachungsverfahren großen Umfangs." Ein derartiges Unterfangen ist seit etlichen Jahren im Gange, wenn man an den Wettstreit der Verlage Claassen und S. Fischer um die Publikation auch noch der unerheblichsten und missratensten Bücher aus der Feder Heinrich Manns denkt.

Lohnenswert und möglicherweise auch Ansatzpunkt einer Re-Lektüre ist daher ein Blick auf Manns Essays, die Ringel dankenswerterweise immer wieder heranzieht: "Geist und Tat" (1910) etwa wurde zum Manifest des intellektuellen Aktivismus, der den Graben zwischen Erkenntnis und Handeln schließen wollte und die Geistigen zum Handeln aufforderte. Oder der Essay "Zola", der im November 1915 in Schickeles "Weißen Blättern" erschien und in die Lebensgeschichte Emile Zolas im französischen Kaiserreich die eigene Lebensgeschichte im Wilhelminismus einschrieb. Zolas Rolle im Dreyfus-Prozess lässt die Rolle der deutschen Schriftsteller im Ersten Weltkrieg durchscheinen. Er wird zum Vorbild des Intellektuellen, wie er sein sollte: ein Kämpfer für die Wahrheit, die Vernunft, den Frieden und die Demokratie. Seitenhiebe fallen gegen die intellektuellen Verräter am Geist, die politisch Ahnungslosen, die Mitläufer, die das Unrecht verteidigen, die Streber, die Nationaldichter werden wollen, und damit vor allem gegen den berühmteren Bruder Thomas, der den Essay sogleich als vernichtenden Angriff auf seine ganze Existenz auffasste. In den "Betrachtungen eines Unpolitischen" wird Zola und damit indirekt auch Heinrich Mann als Gestalt des internationalistischen "Zivilisationsliteraten" gesehen, der als polemisches Gegenbild zum deutschen Künstler aufgebaut wird. Hiermit lieferte Thomas Mann eine seiner das ganze Werk durchziehenden Antithesen: Heinrich steht gegen Thomas, wie Frankreich gegen Deutschland, der Zivilisationsliterat gegen den Künstler, der Demokrat gegen den Monarchisten, der aktivistische Neopathetiker gegen den demütig aufnehmenden Pathoskritiker, der expressionistische Satiriker gegen den impressionistischen Ironiker, der Politiker gegen den Unpolitischen. Erst Anfang 1922 kam es bekanntlich zur Versöhnung der Brüder, der bald auch eine geistige Annäherung folgte, wenngleich sehr, sehr zögernd. Erst gegen Ende der Weimarer Republik nahm eine fruchtbare Zusammenarbeit erkennbare Züge an, als die Brüder zu den führenden Mitgliedern der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste zählten und eine Reihe von offiziellen Funktionen im Kulturleben der Republik wahrnahmen. Freilich blieb stets etwas Steifes und Vorsichtiges in ihrem Verhältnis, die gegenseitig wahrgenommenen Antithesen ließen sich nicht gänzlich auflösen.

Insgesamt sei die These gewagt, dass sich das mitunter schwer zu entwirrende Gewebe der gegenseitigen intellektuellen Anziehungen und Abstoßungen Heinrich und Thomas Manns wesentlich besser als 'roter Faden' einer Biographie angeboten hätte als die starre Fixierung auf teleologisch angeordnete Datentreue, auch wenn diese nicht selten brauchbare Ergebnisse liefert. Es wäre durchaus möglich zu zeigen, wie sich Heinrich und Thomas Mann in wechselnden ästhetischen, philosophischen und politischen Lehren vermummten, besonders dann, wenn die Autoren den Halt nicht mehr in sich selbst fanden. Diese 'Vermummung' stempelt beide zu Prototypen des Intellektuellen im zwanzigsten Jahrhundert. Ringel gelingt es mitunter recht gut, zumindest Heinrich Manns Einschreibungen in den ästhetischen und politischen Diskurs der Zeit sichtbar zu machen, wenn auch die üppigen kulturgeschichtlichen Exkurse, die zur Erklärung beigegeben werden, bisweilen langweilen und vom eigentlichen Gegenstand der Betrachtung ablenken. Als gelungen ansehen darf man Ringels erhellende und neue Ansätze liefernde Interpretation der Künstlernovelle "Pippo Spano", die er zurecht als einen Schlüsseltext Heinrich Manns liest. Hier hätte es sich durchaus angeboten, Vergleiche zu ähnlichen Unternehmungen Thomas Manns zu ziehen. Ähnlich wie "Pippo Spano" geht es auch in "Tonio Kröger" und "Der Tod in Venedig" um die Selbstreflexion der Kunst und des Künstlers. Anders als sein Bruder Heinrich hatte Thomas Mann jedoch nur sehr zaghafte Versuche gemacht, sich der politisch-sozialen Realität gestalterisch zu nähern. Heinrich Mann wird indes, wie Ringel zurecht herausstreicht, wohl auschließlich als "politischer Schriftsteller" überdauern, der auf ästhetische Fragen nur selten eingeht. Nicht das Kunstwerk interessierte ihn, sondern die gesellschaftlichen und zeitgeschichtlichen Fakten, die auf seine Entstehung eingewirkt haben und die sich in ihm widerspiegeln. Literatur ist für Heinrich Mann nur als Illustration von Anschauungen dienlich: "Literatur ist niemals nur Kunst, eine bei ihrem Entstehen schon überzeitliche Dichtung gibt es nicht. Sie kann so kindlich nicht geliebt werden wie Musik. Denn sie ist Gewissen - das aus der Welt hervorgehobene und vor sie hingestellte Gewissen. Es wirkt und handelt immer."

So wenig wie sich Heinrich Mann in Fragen der Ästhetik mit seinem Bruder Thomas messen konnte, kann sich Stefan Ringels Biographie mit dem großen Wurf Hermann Kurzkes messen. Vielleicht ist dieser Vergleich auch unstatthaft. Wie dem auch sei, es gelingt Ringel durchaus, Heinrich Mann von manchen ungerechtfertigten Verunglimpfungen früherer Kritiker zu befreien und ihn als gleichsam durch den Zeitgeist Getriebenen und als den Zeitgeist Vorantreibenden (neu) zu entdecken. Liebhaber von Biographien werden das zu schätzen wissen.

Titelbild

Stefan Ringel: Heinrich Mann. Ein Leben wird besichtigt.
Primus Verlag, Darmstadt 2000.
413 Seiten, 32,70 EUR.
ISBN-10: 3896781677

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