Worte in Briefen

Zwei Karl-Kraus-Briefausgaben: an Mechtilde Lichnowsky und Annie Kalmar

Von Florian EichbergerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Eichberger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu den schönsten Erscheinungen des Karl-Kraus-Jahres 1999, welches das hundertjährige Erscheinen der ersten "Fackel"-Nummer und zugleich den 125. Geburtstag ihres Herausgebers und Autors feiern konnte, gehörte die Kraus-Ausstellung des Schiller-Nationalmuseums Marbach. Die wertvollen Beihefte zum Katalog aber waren leider allzubald vergriffen, obwohl sie z. T. ein zweites Mal aufgelegt wurden. Um so erfreulicher ist es, dass nun zwei der insgesamt fünf Beihefte im Wallstein Verlag eine Buchausgabe erfahren. Die vom Kraus-Spezialisten und Nachlassverwalter Friedrich Pfäfflin mit Eva Dambacher und in Zusammenarbeit mit Volker Kahmen erarbeiteten Bände zeichnen die Briefwechsel Kraus' mit zwei ganz unterschiedlichen Frauen nach: der jungen Schauspielerin Annie Kalmar (1877-1901) und der Autorin, Komponistin und Graphikerin Mechtilde Lichnowsky (1879-1958).

"Wie Genies sterben" ist der von Kraus bearbeitete Nachruf Peter Altenbergs auf Annie Kalmar in der "Fackel" überschrieben, und diesen Titel trägt auch der Band "Briefe und Dokumente" zu Recht. Denn gestorben ist sie während fast der ganzen Zeit ihrer Bekanntschaft mit Kraus, der sie im Sommer 1900 persönlich kennenlernt. Als er sie bald darauf Baron Alfred von Berger ans Hamburger Schauspielhaus empfiehlt, ist die erst 22jährige bereits schwer lungen- und alkoholkrank. Im Hamburger Krankenhaus St. Georg wird ihr das Schreiben untersagt, so dass ihre Pflegerin den Hauptteil der Korrespondenz nach Wien erledigt, in der sich höflich-ungenaue Angaben zum Gesundheitszustand ("befinden schlecht") mit Bitten um Geld abwechseln. Am 2. April 1901 berichtet von Bergers Assistent Fritz Schik an Kraus von Annie Kalmars Tuberkulose und einer neu entdeckten Krebsgeschwulst: "Wenn nicht besonders günstige Umstände eintreten, ist sie verloren. Besondere Behütung im Krankenhaus sei jetzt gleichgültig." Am 10. April kommt sie zurück in ihre Wohnung, fürchtet sich vor dem Tod. Am 2. Mai 1901 stirbt sie.

Die zweite Hälfte dieses Bandes ist die Geschichte überlebenslangen Andenkens. Sind es sonst erklärtermaßen die Scheußlichkeiten der Zeit, die Kraus "auf die Nachwelt" bringt, so überliefert er dieser auch eine Liebe, der er Shakespearsche Dimensionen verleiht, und das fast religiös verehrte Wunder einer Göttlichen, die ihn bat, an sie zu denken: "Vergiss u verlasse Deine Annie nicht, die Dich sehr lieb hat." Während sie noch stirbt, gibt Kraus bei dem Wiener Bildhauer Richard Tautenhayn ein Halbrelief Annie Kalmars nach photographischer Vorlage in Auftrag. Es befindet sich bis heute und "auf Friedhofsdauer" am Grabmal Annie Kalmars auf dem Friedhof Ohlsdorf, "ihrem Andenken gewidmet von / Karl Kraus". Ein zweites Exemplar stand altargleich in der Ecke seines Arbeitszimmers.

Auch im publizistischen Werk bleibt Annie Kalmar gegenwärtig. Kraus druckt in F81 (1901) den erwähnten Nachruf Altenbergs und ahndet unerbittlich journalistischen Rufmord an der Verstorbenen. Ihr Andenken ist entscheidend für den Bruch mit Maximilian Harden, der auf das Verhältnis als "grotesken Roman" anspielt. Noch "Traumtheater" widmet der 50jährige Kraus "In memoriam / Annie Kalmar", und dreißig Jahre nach ihrem Tod veröffentlicht er in F852-856 (1931) die lyrische Huldigung "Annie Kalmar" mit ihrer Photographie.

Am bezeichnendsten für dieses Gedächtnis ist vielleicht das Gedicht "Aus jungen Tagen", das an Sidonie Nádherný gewendet zugleich Annie Kalmar beschwört - eine doch bedrohliche Art der Kontinuitätsstiftung, welche die tote und die lebende Geliebte in einer "Doppelbelichtung", wie es die Herausgeber nennen, vereint: "Wie halt' ich dich in deinem Himmel fest!" Nachzutragen wäre hier allenfalls, nachdem das Gedicht ohne eigene Zählung den Eindruck erweckt, als gehöre es zum Vorhergehenden, der Druck in F418-422 (1916), und in "Worte in Versen I" (1916).

Mechtilde Christiane Marie Fürstin Lichnowsky, geb. Gräfin von und zu Arco-Zinneberg, Urenkelin von Maria Theresia und Gattin des deutschen Botschafters in London, war Beiträgerin, Freundin, Vertraute und verzweifelt angerufene Mittlerin im geheimen und schwierigen Einverständnis mit Sidonie Nádherný. Kraus und Lichnowsky schließen vermutlich erst 1918, vermittelt durch den gemeinsamen Verleger Kurt Wolff, nähere Bekanntschaft, die aber rasch zur Freundschaft wird. Sie dauert, mit Wechselfällen, bis zum Tode Kraus' im Jahr 1936. Die im Band "Verehrte Fürstin" versammelten 66 Briefe, Karten und Telegramme von Kraus (sämtlich im Deutschen Literaturarchiv Marbach) datieren zum überwiegenden Teil aus dem ersten Jahrzehnt ihrer Bekanntschaft.

Als eigenständige Edition hat dieses "Beiheft" seinen Platz im Regal am besten zwischen dem Marbacher Lichnowsky-Magazin 64/1993 und den Briefen an Sidonie Nádherný von Borutin (1974). Eine entsprechende Parallellektüre wird durch die Auszüge im Text und die Verweise im vernünftig angelegten Stellenkommentar, ohne den auch die vielen Anspielungen und privatsprachlichen Wendungen unverständlich blieben, wesentlich erleichtert.

Dass es auch hier zu "Doppelbelichtungen" kommt, ist nur begreiflich. Das Gedicht "Du seit langem einziges Erlebnis" ist in einer Abschrift von Kraus Mechtilde Lichnowsky gewidmet, doch wird es Sidonie Nádherný später zu den an sie gerichteten zählen. Beiden Frauen, "Trägerinnen der verschollenen Menschheit", will er zunächst auch "Die letzten Tage der Menschheit" widmen. Wie aus einem Munde grüßen Kraus und Lichnowsky an Sidonie Nádherný "Wir lieben Dich." Sidonie Nádherný schreibt "Mechtsidild" und Kraus selbst: "Was immer sein mag, bin zwischen Lebens- und Sterbensüberdruß immer für diesen! Aber ich, wenn es S[idonie]M[echtilde] nicht mehr gibt, mache Schluß. Ich kann halt ohne Reisen nicht sein."

Diese "Reisen" sind die ins Paradies verklärten Aufenthalte von Kraus nicht nur bei Sidonie Nádherný im Park und auf dem Schloss von Janowitz (auch hierzu gibt es mittlerweile ein tschechischdeutsches Marbacher Magazin 91/2000 von Alena Bláhová und Friedrich Pfäfflin), sondern auch bei den Lichnowskys in Grätz und Kuchelna. Es ist eine Welt der Wunder: 1921 wäre Mechtilde Lichnowsky auf einem Ausflug beinahe in den Strudeln der Moldau ertrunken - ein Erlebnis, das sie selbst als Tod und Wiedergeburt zu neuem Leben durch Karl Kraus darstellt, als das "unwahrscheinlichste aller Wunder". Diese zeittypisch-phantastische Sicht wird sicher von Kraus selbst in "Auf die wunderbare Rettung der Wunderbaren" mitgeprägt: "Wiederbegnadete du, / Glückliche, die den Tod / vor dem Leben erfuhr -".

Dabei hat Lichnowsky vielfach Anteil an der "Fackel" und den Vorträgen. Einen weiten Raum im Briefwechsel nehmen ihre Nestroy-Vertonungen ein, von deren Vortragserfolg Kraus begeistert berichtet (hierzu wäre der Druck in den Notenbeilagen zu den "Zeitstrophen", 1931, nachzutragen). Auch als Zeichnerin ist sie unter dem Pseudonym "Chr. Dark" (in der Bildlegende ist fälschlich das zunächst vorgeschlagene "Chr. Bogen" stehengeblieben) in der "Fackel" vertreten: In der Beilage zu F606-612 (1922) werden die "Clichés und Verkürzungen der Literarhistoriker" beim Wort genommen, "wieder in lebendiges Geschehen aufgelöst" und comicartig an Hermann Bahr illustriert, wobei Kraus auffallen muss, "daß der alte Mann nur kurze Hosen trägt, und man bestätigt sich erst, daß man sich ihn gar nicht anders vorstellen könnte."

Aber nicht immer sind die Beiträge freiwillig, und nicht immer geschehen sie mit Zustimmung der Urheberin. Wie viele andere auch wird Mechtilde Lichnowsky von Kraus als Zuträgerin von Gehörtem und Gesehenem genutzt. Das von der Geschützlast grausam gezeichnete Kriegspferd in Szene V,31 der Buchausgabe von "Die letzten Tage der Menschheit" z. B. beruht auf einer ihrer Mitteilungen. Wenn aber Wendungen in die "Fackel" getragen werden, die Lichnowsky selbst in "Der Kampf mit dem Fachmann" verwenden wollte, schäumt die Autorin: "It makes me wild." Und: "He ought to know that I am a writer". Den privaten Plagiatsvorwurf kann Kraus nur mit Mühe durch eine fingierte Leserzuschrift in der "Fackel" öffentlich abbiegen. Wie zum Zeichen der Anerkennung als "writer" erscheint "Der Kampf mit dem Fachmann" 1924 bei Kraus' Druckerei Jahoda & Siegel.

Es ist schön zu sehen, dass Pfäfflin dieses Beiheft nicht nur Christian Wagenknecht, dem Herausgeber der Suhrkamp-Ausgabe, widmet, sondern auch Kurt Krolop, der unter anderem die Ostberliner Volk und Welt-Ausgabe besorgte. Warum aber bei Wallstein der letzte Satz seiner Nachbemerkung gestrichen ist, weiß ich nicht: "Es ist kaum abzusehen, daß sich je wieder solche Publikationsmöglichkeiten ergäben als an diesem Ort, an dem heute die Urheberrechte von Karl Kraus verwaltet werden, in Marbach." Recht hat er doch.

Denn beide Briefeditionen gehören - bei aller Zeitnot durch die Ausstellungstermine - zu den sorgfältigsten Ausgaben, über die die Literaturwissenschaft verfügt. Zugleich gelingt es den Herausgebern, im Zusammenspiel von überleitenden Texten, Briefen und ergänzenden (Brief-)Dokumenten jeweils ein Korpus vorzustellen, das geradezu biographisch-narrative Kraft entwickelt und daher auch als berückende Lektüre empfohlen werden kann.

Der Lichnowsky-Band wird außerdem durch ein Personenregister erschlossen. Für die Buchausgabe ist er offenbar noch einmal durchgesehen und korrigiert worden, von der Schriftgröße "auf dem Rand" bei Nr. 22 bis zum gezeichneten Bogen von Nr. 4, der jetzt als Anagramm "ARKUS"/"KRAUS" aufgelöst ist. Sonst sei nur vorsichtig angemerkt, dass bei den Nummern. 122 und 123 der Aufbewahrungsort zu fehlen scheint. Und falls bei Nr. 92 an der Transkription von "Steirer" gezweifelt ist, sei vielleicht auf die öfter zitierte Pressemeldung "Steirer macht letzten Versuch" (als Glossentitel dann in F847-851, S. 92) verwiesen.

Titelbild

Karl Kraus / Mechtilde Lichnowsky: "Verehrte Fürstin". Briefe und Dokumente 1916-1958.
Herausgegeben von Friedrich Pfäfflin und Eva Dammbacher in Zusammenarbeit mit Volker Kahmen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2001.
255 Seiten, 25,10 EUR.
ISBN-10: 3892444765

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Titelbild

Karl Kraus / Annie Kalmar: "Wie Genies sterben". Briefe und Dokumente 1899-1999.
Herausgegeben von Friedrich Pfäfflin und Eva Dammbacher in Zusammenarbeit mit Volker Kahmen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2001.
163 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3892444757

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