Die Rechte des Erzählens

Gert Neumanns Suche nach dem, "was sich nicht in Asche auflösen wird"

Von Benjamin SpechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Benjamin Specht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach dem Erscheinen von Gert Neumanns neuem Roman "Anschlag" konnte man begeisterte Schlagzeilen lesen, wie "Endlich! Der Wenderoman" und "Geist und Sinnlichkeit". Der letztgenannte Artikel stammt von Martin Walser, Gert Neumanns Fürsprecher, der sich unermüdlich für den 1942 geborenen Schriftsteller und standhaften DDR-Kritiker einsetzt. Walser ist der Hauptvertreter der These, dass mit "Anschlag" nun endlich der Wenderoman erschienen sei, an dem sich viele andere Autoren schon erfolglos versucht haben. Die Frage soll nun sein, inwieweit dieses Urteil angemessen ist und ob damit nicht einige Aspekte des Textes zu wenig Gewichtung finden bzw. zu sehr betont werden.

Schon der Titel des Werkes gibt mit seiner Vieldeutigkeit einige Rätsel auf. "Anschlag" - das kann einen umstürzlerischen Akt bezeichnen, einen Aushang, oder aber den Anschlag einer Schreibmaschine. Am Ende des Romans wird der Leser noch auf eine weitere Bedeutung aufmerksam gemacht: den Namen einer kritischen literarischen Zeitschrift in der DDR, zu deren Redaktion Gert Neumann gehörte. Alle diese Konnotationen haben ihre Richtigkeit, denn alle kreisen um das Problemfeld des Widerstandes - dem Thema, das Gert Neumann auch nach der Wende nicht loslässt und hier aus neuer Perspektive betrachet. Ging es vor 1989 noch um die richtige Form des Widerstandes und um die Rolle der Kunst, so stehen jetzt das Erzählen und das Gespräch im Mittelpunkt, in denen sich Erinnerung und damit auch Deutung des Vergangenen vollziehen.

Dieser Vorgang findet zwischen zwei Männern statt, die sich im Zug kennenlernen, weil sie beide mit einem "Schönes-Wochende-Ticket" zu einem Mittelalterfestival in der Ruine des Klosters Chorin unterwegs sind. Bis hierhin lässt das Buch noch zwei (leicht modernisierte) romantische Fahrensleute auf ihrem Weg durch eine symbolträchtige, ostdeutsche Landschaft erwarten. Was sich zwischen ihnen vollzieht, ist aber keineswegs sehnsüchtige ,Sympoesie' und ,Symphilosophie' romantisch-verwandter Seelen, sondern ein höchst kompliziertes, bedeutungsschweres, oft asymmetrisches, westöstliches Gespräch, das sich nicht selten am Rande des Scheiterns bewegt.

Dabei wird mehr über das Gespräch nachgedacht als tatsächlich gesprochen. Der ostdeutsche Ich-Erzähler entwickelt in seinen langen Reflexionen eine Theorie des Erzählens und Zuhörens, die die Gefährdungen und Chancen jedes Gesprächs benennt: Erzählen ist immer durch falsches Verstehen bedroht, das glaubt, den Sinn vollständig erfasst zu haben. Das Gehörte wird deshalb nicht innerlich weitererzählt, sondern fixiert. Das Zuhören wiederum schwebt in der Gefahr, durch festlegendes Erzählen seiner eigenen Kreativität und Dynamik beraubt zu werden. Gespräche gelingen nur dann, wenn eine "Freiheit des Augenblicks" gegeben ist, die nicht zielgerichtet wirkt. Sie ist - ähnlich wie in "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" des häufig erwähnten Heinrich von Kleist - durch Spontaneität und Offenheit gekennzeichnet. Diese Gesprächsfreiheit, das Grundrecht des Erzählens und Zuhörens, soll sich nicht nur zwischen den Figuren des Textes entfalten, sondern auch zwischen dem Romantext und dem Leser.

Am Anfang steht das ,Einüben' von einfachen Worten, wie "Alles klar", "feindselig" und "naturbelassen". Erst dann beginnen die beiden über Erlebtes zu sprechen. In einer dritten Phase kommt das Gespräch auf das im deutsch-deutschen Dialog unumgängliche Thema der DDR-Vergangenheit, d. h. der Zensur, "dem Stasi", dessen Akten, vor allem aber dem Widerstand gegen die Diktatur. Als fruchtbar erweist sich das Gespräch allerdings nur dann, wenn nicht in abstrakten Überlegungen, sondern in konkreten Beispielen gesprochen wird. Besonders eindringlich ist dabei die Geschichte des "verlorenen Sohnes" des Ich-Erzählers. Der Vater weiß nur, dass er aus unbekannten Gründen verhaftet wurde. Anhand dieser Situation wird verdeutlicht, dass die Machthaber sogar den Widerstand ihrer Landsleute mit einberechnet und instrumentalisiert haben, denn die "Gelegenheit zum Widerstand wird von der herrschenden Macht gegeben". Widerstand heißt deshalb nicht nur, der Diktatur zu widersprechen, sondern ihr das richtige Erzählen und Zuhören als Wahrheitsgaranten gegenüberzustellen: Widerstand kann erst dann wahr werden, wenn es ihm gelingt, "von seiner ihm gegebenen Gelegenheit zum Widerstand abzusehen".

Das Gespräch der beiden endet, wie es begonnen hat: im Schweigen. "Denn, die wahren Ansichten zu den Dingen werden in jedem Gespräch aus der Beschaffenheit der zwischen den Worten lebenden Schweigens begleiteten Geschichte der Gesten herausgelesen". Dieses Zitat ist durchaus typisch für Gert Neumanns komplexe Schreibweise. Ihr hoher Formungsgrad ist der Aspekt an Neumanns Werk, der am stärksten polarisiert. Entweder man begeistert sich dafür, oder man verliert schnell die Lust am Text. Wer durchhält, wird jedoch belohnt. Am Ende des Romans formuliert der Ich-Erzähler die Quintessenz seines Verständisses vom Erzählen als Widerstand in Gestalt eines Essays über "Die Rechte des Erzählens" und in der Begegnung mit der Sagengestalt der Mittagsfrau.

Mit "Anschlag" hat Gert Neumann wieder einen äußerlich handlungsarmen Roman geschrieben, dessen Akzente mehr auf der Ebene des Denkens und Argumentierens liegen als auf der Anschaulichkeit von Handlungen und ihrer Motivik. Neumann zitiert viele ältere und neuere Schriftsteller, von Kleist bis Bachmann, allerdings oft in abgewandelter Form, so dass er die Zitate erklären muss. Häufiger jedoch widersteht er der Versuchung, sich zu erklären, und verkompliziert seine an sich schon anspruchsvolle Schreibweise dadurch noch mehr.

Walser, der in dieser Schwierigkeit des Textes eine enge Verbindung von Sinnlichkeit und Geist sieht, hat in seinem eingangs erwähnten Essay richtig bemerkt, dass sich Gert Neumanns Prosa der üblichen Kategorisierung von littérature engagée und poésie pure entzieht. Dass es sich bei "Anschlag" jedoch um den großen, neuen Wenderoman handelt, kann bezweifelt werden. Ein wirkliches deutsch-deutsches Gepräch kommt darin kaum zustande. Aufgearbeitet wird fast nur die DDR-Vergangenheit - der westdeutsche Begleiter stellt die Fragen, die der Ich-Erzähler beanwortet. Das so entstehende Ungleichgewicht der beiden Personen verschärft sich noch durch die gebildete Überlegenheit des Ostdeutschen, der in literarischen Anspielungen spricht, die sein Begleiter nicht versteht. Gert Neumann vermeidet zwar Stereotypen und Pauschalisierungen, ein differenziertes Bild eines Ostdeutschen von Westdeutschland entsteht dennoch nicht. Aber muss es das denn? Vielleicht geht es in dem Roman ja weniger um ein westöstliches Gespräch, als vielmehr um eine Deutung der Vergangenheit in der Diktatur, um die Neubestimmung des eigenen Standortes und um Erzählen und Zuhören als solches.

Titelbild

Gert Neumann: Anschlag. Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 1999.
240 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3770148223

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