Die Moral von Grimms Märchen – Eine Studie für Märchenforscher von Wilhelm Solms

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist ein Literaturwissenschaftler, der sich für die gute Lehre der Märchen interessiert, nun schlicht ein Moralhansel, der den Sinn, den er in den Märchentexten nachweisen will, vorweg bestimmt hat, so daß er nur sein feststehendes Weltbild wiederfindet?

Beileibe nicht – Wilhelm Solms unternimmt in seinem neuen Buch nicht nur den ersten Versuch, die spezifische Moral, die den Märchentexten innewohnt, zu erfassen. Er bestimmt zudem sämtliche Gattungen und Untergattungen des Märchens und ordnet die 200 KHM-Texte den verschiedenen Gattungen zu. So ist es ihm möglich, auch die Moral der einzelnen Märchengattungen herauszustellen.

Die Vorgehensweise ist denkbar schlicht: Solms orientiert sich am Wortlaut des Märchens, eine oberflächliche Betrachtungsweise, wie er spöttisch schreibt. Er läßt die vieldeutigen Bilder einfach stehen und bestimmt die Moral der Zaubermärchen, indem er zeigt, daß die Helden und Heldinnen des Zaubermärchens ihr Glück machen, weil sie durch tugendhaftes Verhalten ein Anrecht auf wunderbare Hilfe erworben haben. In den Eigenschaften, mit denen der Erzähler sie direkt, Aschenputtel ist ‚gut und fromm‘, oder indirekt, der Dummling ist reinen Herzens, charakterisiert, kommt ihre Tugendhaftigkeit zum Ausdruck. Das Zaubermärchen entspricht so den Wünschen des Märchenpublikums. Es verspricht, obwohl in der Realität oft das Gegenteil der Fall ist, daß Tugend sich lohnt.

Die Moral der unmoralischen Schwänke liegt dagegen im Diesseits begründet. Solms zeigt, wie der Erzähler gerade für die Sünden und Schwächen seiner Helden Toleranz aufbringt. Dennoch wird damit die herrschende Moral von Fleiß, Ordnung usw. bestätigt, indem die Zuhörer/Leser die Sünden als Sünden begreifen und gleichzeitig Einsicht für den Konflikt zwischen Neigung und Pflichterfüllung, den sie auch an sich selbst erleben, entwickeln. Danach behandelt Solms die explizit moralischen Erzählungen, die lediglich Illustration einer bestimmten Lehre sind, sowie die Lehre kleiner Märchenformen wie Ketten- oder Lügenmärchen, die keine eigene Gattung bilden, sondern in verschiedenen Gattungen Verwendung finden. In einem dritten Teil schließt er die Folgerungen seiner Analyse an und vergleicht die Märchenmoral mit Alltagsmoral, christlicher Botschaft, Kants Handlungsethik und der pädagogischen Intention Wilhelm Grimms.

In Zusammenhang mit seinen Untersuchungen setzt Solms sich in den meisten Kapiteln mit einer einzelnen Richtung der Märchenforschung kritisch auseinander und zeigt die Schwächen und Lücken, aber auch die Stärken der einzelnen Positionen auf. Generell kritisiert er die vorbestimmte Lesart, die den Theorien zugrunde liegt. Ein Mythenforscher sucht wahllos nach mythischen Anklängen, ein Freud-Schüler findet ausschließlich Sexualsymbole, wobei vor allem Solms‘ strikte Anwendung der Theorie diese selbst entlarvt. Frau Holle als südamerikanische Sonnengöttin (Drewermann) oder Aschenputtels Schuh als Symbol für ihre Vagina, die sie dann auf der Treppe verlieren würde (Bettelheim), entlocken dem Leser nicht nur ein Schmunzeln, sondern führen ihn ganz in Solms Sinn dazu, den Märchentext zu betrachten, statt nach Belegen für die vorgefaßte Theorie zu suchen.

Und die Moral von der Geschicht? Wilhelm Solms hat ein Buch für Märchenforscher und Märchenliebhaber geschrieben. Die Exkurse zur Erzählforschung können von Lesern, die sich eher für die Märchen als die Irrwege der Forschung interessieren, schlicht und einfach überblättert werden. Es ist ihm gelungen, über ein beliebtes Thema in einer lesbaren Sprache zu schreiben, Wissenschaft verständlich zu transportieren. Was eher ein zwiespältiges Kompliment sein kann, impliziert es doch mögliche Simplifizierung, ist an dieser Stelle ganz aufrichtig ausgesprochen. Gerade in seiner Nutzbarkeit liegt der Wert des Werkes. Die in sich geschlossenen Märcheninterpretationen können sofort als Unterrichtsmaterial genutzt werden, dies ist in München bereits geschehen. Ausführliche Register erleichtern die Suche nach dem Lieblingsmärchen, nach bekannten Interpreten, Forschungspositionen oder Schlagworten.

Anmerkung der Redaktion: literaturkritik.de rezensiert grundsätzlich nicht die Bücher von regelmäßigen Mitarbeiter / innen der Zeitschrift sowie Angehörigen der Universität Marburg. Deren Publikationen können hier jedoch gesondert vorgestellt werden.

Titelbild

Wilhelm Solms: Die Moral von Grimms Märchen.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 1999.
249 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3896781235
ISBN-13: 9783896781239

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch