Vergebungsritual

Zu Jessica Durlachers zweifelhaftem Roman "Die Tochter"

Von Matthias PrangelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Prangel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Niederländische Literatur hat seit etwa einem Jahrzehnt auch in Deutschland Hochkonjunktur. An die Reihe der in deutscher Übersetzung greifbaren Namen Harry Mulisch, Cees Notenboom, Conny Palmen, Leon de Winter, Tessa de Loo, Margriet de Moor, Renate Rubinstein, Vonne van der Meer u. a. schließt sich in jüngster Zeit ein neuer an: Jessica Durlacher. Nach ihrem Debutroman aus dem Jahr 1997 (deutsch 1999), "Das Gewissen", folgt nun ein zweiter, schon bei seinem Erscheinen in den Niederlanden von Teilen der Kritik und jetzt auch in deutschen Vorbesprechungen in den höchsten Tönen gepriesener: "Die Tochter". An die beste Tradition des klassischen Hollywoodfilms, etwa "The Sting" und "The Firm" knüpfe das Buch an. Und wem das noch eine Nummer zu klein ist, dem wird der Titel von Max Pan in der Amsterdamer "HP/DE TIJD" als einer schmackhaft gemacht, der "in die gleiche Kategorie von Meisterwerken gehört wie der legendäre Film ,Casablanca' mit Humphrey Bogart und Ingrid Bergman". Auch wenn einen solch bombastisches Getöse der Kritik heute kaum noch wirklich schreckt, da man ja weiß, in wessen Dienst es steht: Schauen wir für diesmal etwas genauer hin, um herauszubekommen, ob Durlachers Text zunächst wenigstens als Text solchen Superlativen wirklich entspricht.

Was da erzählt wird ist, das sei vorweg festgehalten, von seiner Thematik her höchst ernst zu nehmen, legitim, respektabel und leider eben auch aktuell - die Problematik der Identitätssuche der zweiten Generation jüdischer KZ-Häftlinge. Ihr sind in der deutschsprachigen Literatur zuletzt u. a. auch Doron Rabinovici ("Suche nach M.") oder Rafael Seligmann ("Der Musterjude") verpflichtet. Diese Problematik nun wird bei Durlacher ad absurdum geführt oder auch verschärft, insofern das Wissen, das der eine der beiden Protagonisten vom Vater zu haben glaubt, sich als Lüge, vermeintlich gesicherte Wahrheit sich als bloßer Schein erweist, was wiederum die Liebesbeziehung zum anderen Protagonisten fast (oder doch ganz?) zum Zerreißen bringt. Was also geschieht?

Sabine Edelstein und Max Lipschitz, beide Anfang zwanzig, beide jüdischer bzw. halbjüdischer Herkunft, beide Kinder von Vätern, die die Konzentrationslager überlebt haben, beide von diesen Vätern weitgehend im Nebel der Ungewissheit über die Erfahrungen in der Hölle belassen, begegnen sich im Amsterdamer Anne-Frank-Haus. Im Verlauf der folgenden, ein Jahr dauernden Beziehung stehen immer wieder die Leidensgeschichten der offensichtlich schwer traumatisiertenVäter, vor allem die von Sabines Vater, im Zentrum ihrer Gespräche. Was Sabine zu wissen meint? Dass der Vater, versteckt auf einem Gutshof in Friesland, aus Eifersucht wegen seiner pubertären Liebesbeziehung zur ebenfalls dort untergetauchten Lisa Stern vom Gutsherrensohn an die Deutschen verraten und mit jener Lisa in die Lager deportiert worden sei. Die habe er zwar mit viel Glück überlebt, sei aber an Körper und Geist für immer beschädigt, woraus sich seine Isolation, offensichtliche Depression und Verschwiegenheit erklärten. Sabine verehrt ihn wegen dieses Schicksals und seiner Lagererfahrungen, über die sie konkret nicht unterrichtet ist, als Helden, in dem sie sich zu spiegeln sucht. Sie entwickelt gerade in solcher Heldenverehrung aber auch unerträgliche Schuldgefühle, die sich aus der Überzeugung herleiten, sie würde als Nachgeborene mit ihrem Verstehen an die Schwere des väterlichen Schicksals nie heranreichen können. Doch eines Tages, ganz ohne jede Vorwarnung, ist Sabine verschwunden. Alles, was sie hinterlässt, ist ein lapidarer Brief: Aus ihrer Beziehung könne nichts werden, sie wolle allein sein, er möge das akzeptieren, sich weiterhin keine Hoffnungen machen und alles Suchen nach ihr unterlassen.

So endet der erste Teil des Buches. Der zweite setzt 15 Jahre später mit der zufälligen Wiederbegegnung der Protagonisten am Rande der Frankfurter Buchmesse ein: Er, Max, nach dem Scheitern seiner schriftstellerischen Ambitionen zum Verlagsleiter avanciert, sie, Sabine, in Los Angeles lebende Photographin, angereist mit dem 70jährigen niederländisch/amerikanischen Filmproduzenten Sam Zaydenweber. Welche Umstände Sabine und Sam zusammengeführt haben, bleibt ungeklärt, und auch die Natur ihrer Beziehung zunächst undeutlich. Klar ist nur, dass Sam an seiner Lebensgeschichte, "My Journey To The Milky Way" arbeitet und mit Max die Herausgabe der deutschen Übersetzung in dessen Verlag verabredet. Als es zum erneuten Zusammentreffen der drei in Los Angeles kommt und es ganz so aussieht, als könnten Max uns Sabine ihre Liebesbeziehung dort wieder aufnehmen, wo sie sie 15 Jahre zuvor abgebrochen hatten, führt die feierliche Übergabe von Sams fertigem Manuskript an Sabine und Max zu Sabines erneutem Verschwinden. Als Max auf der Rückreise nach Europa in dem Manuskript liest, beginnt sich das Mysterium von Sabines zweifachem Verschwinden schnell aufzuhellen: Sabines Vater hatte die Ereignisse um seinen und Lisa Sterns Verrat an die Nazis seiner späteren Frau und Sabines Mutter mit falscher Rollenbesetzung erzählt. Sam Zaydenweber und nicht er war das Opfer des Verrats, er hingegen der Verräter, kein Jude, vielmehr der ganz friesländische Gutsherrensohn. Für Sabine, die sich inzwischen ebenfalls in die Lektüre des Manuskripts vertieft hat, wird damit nur die Sicherheit dessen bestätigt, was ihre längst misstrauisch gewordene Mutter schon vor ihrem ersten Verschwinden recherchiert hatte und was auch Max nun bald erfährt: dass der Vater seinen Verrat fortsetzte, indem er sich zur SS meldete und an der Ostfront kämpfte, dass er - wie auch immer selber dorthin geraten - im KZ Sachsenhausen den Juden Hans Edelstein ermordete und nach dem Krieg dessen Identität angenommen hatte. Der vollkommene Zusammenbruch kurzum von Sabines Welt vom heldischen Vater, ihr Absturz von der Tochter des früheren KZ-Häftlings zur Tochter des arischen Verräters und Mörders an einem Juden. Die Scham über den Hochmut, der diesem Fall voranging, hat den zweimaligen Rückzug von Max in die Unerreichbarkeit zur Folge. Ganz am Ende, da alles offenbart ist, dann freilich ein Telephongespräch mit beiderseitigem Vergebungsritual, das offen lässt, ob und wie es für Max und Sabine eine Fortsetzung gibt.

So weit die reichlich konstruierte Geschichte mit ihren gar zu vielen Zufällen und unüberbrückten Lücken. Doch mag das noch angehen. Und möglich, dass tatsächlich noch jemand einen passablen Spannungsfilm - es muss ja nicht gleich wirklich "Casablanca" sein - draus zu machen weiß. Die alte, immer wieder neue Frage lautet allerdings, was außer der Geschichte sonst noch ist bzw. was daraus im Buch geworden ist. Und das ist hier eben bitter wenig. Das Buch ist ganz ausschließlich plotdriven. Es ist diese Geschichte und nicht mehr. Sie wird vom fiktiven Ich-Erzähler Max mit erstaunlichem sprachlichem Unvermögen heruntererzählt, für das aber nicht der, auch nicht etwa die Übersetzung, sondern allein die Autorin verantwortlich ist. Da gibt es keine überraschenden oder pointierten sprachlichen Wendungen. Da gibt es kein subtiles Spiel des Andeutens und Verbergens (dass bei der einzigen Begegnung Max' mit Sabines Vater, dessen Auftreten mit implizit vorausdeutendem Fingerzeig als "zackig" bezeichnet wird, ist eher trivial und gehört in die internationale Repertoirkiste antideutscher Ressentiments). Da fehlt jegliches Geschick, aus erzählerischem Bericht und dialogisch-szenischer Darstellung eine integrierte Einheit zu formen und wird der Leser stattdessen durch trostloseste Inquit-Formeln ("Sabine sagte", "sagte Sabine", "sagte sie", "giftete sie", "sagte ich", "fragte ich" etc.) ermüdet. Und dann der Umgang mit den Emotionen, um die es doch vor allem gehen soll. Sie werden mit Elan behauptet, wenn es z. B. heißt: "Für uns existierte nur eine Wirlichkeit, und das war die der Gefühle. Eine heftige Wirklichkeit, in der wir mit ganzer Hingabe herumwateten und zumindest am Anfang keine Disziplin kannten." Nur sehr viel mehr als vielfaches ausgiebiges Vergießen von Tränen und Fluchen wird uns als Äußerung des inneren Menschen nicht geboten. Auf dem Gipfel emotionaler Aufgewühltheit müssen wir uns, viel zu häufig, mit einem "verdammt" oder einem "Herr Gott im Himmel" begnügen, das übrigens als deutsche Version des niederländischen Allerweltfluchs "godverdomme" sehr unglücklich ist und eher tantenhaft putzig klingt. Nein, mit der Sprache verkehrt Durlacher auf gar zu dürftigem Fuß. Zumal wenn es um die Artikulation psychischer Regungen geht, bleibt sie in purer Hilflosigkeit stecken. In diesen Zusammenhang gehört auch die Unsitte, normalste Wörter (wir, und, mußte, ich, Freude etc.) aus Gründen vereindeutigender Akzentuierung kursiv zu setzen. Sollte die Autorin sich da nicht am Ende lieber ganz von der schriftlichen auf die mündliche Kommunikation verlegen? Und ein letzter Punkt sei berührt: die Primitivität des Spannungsaufbaus in diesem Buch. Dass Sabine nicht nur einmal, sondern gleich zweimal aus heiterem Himmel verschwindet, mag als Retardationsmoment noch angehen. Dass sie Max jedoch immer wieder nichts und gar nichts anderes mitzuteilen hat, als dass alles sich ganz anders verhalte als er glaubt, er selber keinerlei Schuld trage, sie aber nichts sagen könne etc., das ist, mit Verlaub, schon bei der ersten Wiederholung billigste Hinhalterei und leere Geheimniskrämerei.

Jessica Durlacher hat ein wichtiges und interessantes Thema und eine nicht einmal ganz unebene Geschichte durch eine literarische Gestaltung verschenkt, die so defizitär ist, dass man sich fragen muss, wie es dennoch möglich ist, dass dieses Buch von Teilen der Kritik in den Himmel gehoben wird. Die Antwort kann wohl nur so lauten: Für deutsch-niederländisch-jüdische Themen scheint es einen Bonus zu geben, der sie aus dem Bereich einer unvoreingenommenen literarischen Kritik heraushält. So darf angenommen werden, dass von diesem Buch niemand viel positives Aufheben gemacht hätte, wenn es nicht jene schwere, aus der Zeit von Krieg und nationalsozialistischer Judenverfolgung in die Gegenwart verweisende Thematik hätte, wenn Jessica Durlacher nicht die Tochter des auch über die Niederlande hinaus bekannten Soziologen und Schriftstellers Gerhard Durlacher wäre, der Überlebender der deutschen Konzentrationslager war, wenn da also nicht jemand spräche, der selbst ein Opfer in zweiter Generation ist. Man sollte aber bei aller Höflichkeit, allem Respekt und aller Demut nicht nur einsehen, dass schwache Literatur durch all diese Umstände leider nicht besser wird, man sollte die Scheu ablegen, genau dies gegebenenfalls auch offen zu sagen. In Rafael Seligmanns "Der Musterjude" heißt es: "Die wenigsten begriffen, dass sie Moische nur aus einem Grunde liebten: weil er Jude war. Er verzapfte Banalitäten. Doch von einem Juden ausgesprochen, wurden sie zur Offenbarung." Damit aber ist niemandem gedient, nicht der Literatur, nicht der Sache, um die sie sich bemüht, nicht den Autoren. Wohl auch nicht Jessica Durlacher.

Titelbild

Jessica Durlacher: Die Tochter. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers.
Diogenes Verlag, Zürich 2001.
327 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 3257062869

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