Das Zeichenregime im 18. Jahrhundert

Semiotik aus der Sicht des Zentrums für Literaturforschung

Von Waldemar FrommRSS-Newsfeed neuer Artikel von Waldemar Fromm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der von Inge Baxmann, Michael Franz und Wolfgang Schäffner herausgegebene Band "Das Laokoon-Paradigma" hat zum Ziel, die Denkverfahren zu ermessen, die implizit oder explizit Lessings "Laokoon" strukturieren. Das am "Zentrum für Literaturforschung" entstandene Buch umfasst 28 Beiträge in sechs Kapiteln: "Repositorium", "Zirkulation", "Steuerung", "Verbindungskunst", "Erfindungskunst" und "Anthropologie". Die einzelnen Beiträge untersuchen die Möglichkeitsbedingungen, konkrete Entfaltung und die Transformation der semiotischen Theorie im 18. Jahrhundert. Das Thema ist umfassender intendiert als es zunächst den Anschein hat. Mit den semiotischen Umbauprozessen kommt das gesamte Wissen der Zeit auf den Prüfstand. Lessings "Laokoon" steht also paradigmatisch für die Veränderungen im 18. Jahrhundert. Am Leitfaden dieses Textes werden der Code-Wandel und die Ausdifferenzierung neuer Codes bzw. Codierungsweisen untersucht. Das Wort Leitfaden muss dabei in der denkbar breitesten Bedeutung verstanden werden. Der Ansatz reicht weit über die sprach- oder zeichenästhetische Dimension hinaus und beschäftigt sich grundsätzlich mit den semiotischen Verhältnissen bei Wörtern, Sachen und Sachverhalten.

Zeichen rücken innerhalb der Logik der Aufklärung ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die Verwissenschaftlichung und Versprachlichung der Welt umfasst, um nur die wichtigeren Themenbereiche der Beiträge zu nennen, Mathematik, Physik, Ökonomie, Ästhetik, Medizin und Soziologie. Die untersuchten Texte stammen aus dem gesamten europäischen Raum. Die Anlage des Bandes verdeutlicht den diskursanalytischen Ansatz, der die 'Bedingungen der Möglichkeiten' von Lessings Text nachvollziehen soll.

Die Autoren betrachten die "semiotischen Umbauprozesse" eingebunden in soziale Zirkulationen, sie bieten eine "Analyse von Wissensfeldern, Künsten, sozialen und wissenschaftlichen Praktiken". Die Beiträge des ersten Abschnittes beschäftigen sich mit Ordnungsvorstellungen. Im Vordergrund stehen Modelle der Datenverarbeitung, deren Medien sowie Speicher- und Transformationsprozessen. Bereits die Begriffe zeigen an, dass es um die Verarbeitung von Informationsmassen geht, die für die Auswertung präpariert werden müssen - Büchermassen, Zeichenmassen, Zahlenmassen usw. Exemplarisch werden das zwölfbändige 'Kompendium' des Dominikanermönches Alphonse Costadau, "Traité historique et critique des signes", sowie die Ordnung von Bibliotheken am Beispiel von Lessings Tätigkeit als Bibliothekar und Robert Hookes "repository" untersucht, ein von ihm entwickelter analytischer Datenspeicher. An Winckelmanns "Geschichte der Kunst des Alterthums" wird gezeigt, wie Datenmassen reduziert (vergessen) werden müssen, will man ihrer ordentlich Herr werden. Ebenso wichtig wie das Vergessen ist die (Er-)Findung von relevanten, wichtigen Daten. Wer das "Eigentliche" vermeintlich authentisch mitteilen will, muss in die Daten, die er überliefert, seine eigene Handschrift eintragen.

Eine Möglichkeit, auf den Verlust von Informationen oder deren Umschrift zu regieren, besteht darin, ihre Verwandlungsfähigkeit zu betonen. Dies unternehmen die Beiträge im Kapitel zur Zirkulation. Darin werden Austausch- und Wertbildungsprozesse beschrieben, die Koexistierendes (auf abstraktestem Niveau: Raum) in sukzessive Abfolgen (Zeit) umwandeln. Solche Umwandlungen durch Austauschprozesse lassen sich auf vielen Gebieten finden, beispielsweise in der Ökonomie oder der Produktion von Gütern. Einleitend wird in John Lockes Sprachtheorie der Zusammenhang von Wissensproduktion, Arbeitsprozess und Sprachgebrauch aufgezeigt. Am Beispiel der Robinsonaden wird gezeigt, wie versucht wird, die Zirkulation semiotischer Praktiken fiktiv zu unterbrechen. Robinson gelingt bei Defoe und Campe, was den Menschen unmöglich ist: die Dinge und die Zeichen neu zu (er-)finden. Er restituiert eine bürgerliche Gesellschaftsordnung auf natürlicher Grundlage. Die Zeichen verstellen außerhalb der sozialen Zirkulation die Natur der bezeichneten Sachen nicht mehr. Anhand von Reiseberichten der 1770er Jahre wird gezeigt, wie unbekannte Sachen durch Benennung in den Zirkulationsprozess eintreten.

Zirkulationsprozesse verlangen nach Regelungen und Steuerungsprozessen, wollen sie ökonomisch, sozial oder ästhetisch wirksam werden. Die Steuerungsmechanismen verdeutlicht der dritte Teil des Bandes anhand von Selbst- und Fremdsteuerungen in David Hartleys Assoziationstheorie, Adam Smiths Sympathiemodell und dem Modell der "unsichtbaren Hand", der Dampfmaschine James Watts und der "Wandlung der Repräsentation von sozialer Kommunikation und Interaktion" während der Französischen Revolution ("semiotische Regulierung von sozialen Artefakten"). Unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet handeln die Beiträge von der Ablösung der Regelpoetik und ihrer Ersetzung durch eine "Regulationspoetik". Regulation wird dabei im sozialen, ökonomischen, psychologischen, technischen und politischen Bereich beschrieben.

Der "Verbindungskunst" von Zeichen ist der vierte Teil des Buches gewidmet. Der Begriff stammt von Christian Wolff und meint eine Zeichenkombination, die unmittelbar evident für alle Schlussfolgerungen ist, die aus ihr gezogen werden können. Die einzelnen Beiträge zur Verbindungskunst beschäftigen sich mit Leibniz' Staats-Tafeln, Humboldts Kartographie oder dem Erschließen von neuen Ideen durch montageartige Verfahren der Zeichenkollision. Ein Beitrag untersucht die Verbesserung von Zeichen in Hinsicht auf eine effizientere Kommunikation durch Ökonomisierung und Formalisierung, ein weiterer die Diskussion um ein musikalisches Notationssystem in Anlehnung und Abstoßung von der Sprache.

Mit der Optimierung von Zeichensystemen beschäftigt sich auch der Abschnitt zur Erfindungskunst. Systematisierung und Differenzierung ermöglichen gezieltere Eingriffe in die unterschiedliche Systeme. Die "Erweiterung und Operationalisierung des Wissens" wird an den Beispielen der Kameralwissenschaft, der Malerei in Abgrenzung von den anderen Künsten (Shaftesbury, James Harris), dem Monströsen und der Autonomieästhetik (Schiller, Moritz) aufgezeigt. Ein Schwerpunkt liegt im Aufweis, dass sich ökonomische, technologische und ästhetische Praktiken über Selbstreferenz regulieren und nicht über Repräsentation. Für ästhetische Belange heißt dies, dass in und für die einzelnen Künste nach eigenständigen syntagmatischen Kombinationsregeln gesucht wird.

Der letzte Teil zur Anthropologie untersucht neben der Umwandlung von Zeichenprozessen die Herstellung von Codierungen innerhalb der medizinischen Semiotik und der Inszenierung des Menschen in der Literatur. Anschlusspunkt ist Lessings Beschreibung des Ausdrucks Laokoons, der zunehmend einer physiologisch-medizinischen Lesart weicht: Die Statue wird zunehmend aus der Sicht des Menschen verstanden, sie wird symbolisch lebendig. Die weiteren Beiträge beschäftigen sich mit der Lesbarkeit des Körpers, mit der Inszenierung des toten Körpers, der Ausdruckssemiotik des lebendigen Körpers und den Schwierigkeiten der äußerlichen symptomalen Lektüre sowie der Codierung der Ohnmacht in der Literatur.

Das Buch erkundet Zeichenprozesse immer unter den Bedingungen der Lesbarkeit oder Lesbarmachung von Welt. Spätestens mit dem Aufkommen der Autonomieästhetik bei Karl Philipp Moritz wäre aber zu fragen, ob nicht die Unlesbarkeit zu einem entscheidenden Kriterium für die Kombination von Zeichen wird. Der Einwand ist nicht grundlegend gegen die Artikel zu Moritz und zur Autonomieästhetik intendiert, es bietet sich aber die Frage an, ob die Analyse der Wirkungen des Schönen nicht besser im ungefähren Ganzen als im Bereich des computablen Wahrscheinlichen anzusiedeln sind. Das Ganze, von dem verlangt wird, dass es mehr als die Summe der Teile ist, ist über die Teile hinaus nicht errechenbar oder erreichbar. Wenn die Teile zweitrangig werden, ist ihre systematische Vernetzung nicht mehr das Ziel von Verbindungs- oder Erfindungskünsten, sondern eher die Unlesbarkeit des Ganzen als ästhetische Provokation des analytischen Denkens.

Die Fülle der Ergebnisse des Buches kann auch nicht annähernd angemessen zusammengefasst werden. Einige wenige Beiträge gesondert hervorzuheben würde die vielen anderen, nicht weniger konzentrierten und umfassenden zurücksetzen. Der Sammelband bietet ein umfassendes Bild von Zeichensystemen im 18. Jahrhundert, ihren Anfängen und Auswirkungen. Vergleichbare Grundlagenforschung gibt es bisher nicht. Die Nennung der Autoren in Klammern am Schluss der Beiträge vermittelt den Anspruch einer lexikalischen Vollständigkeit. Auch wenn Lücken geblieben sind, ermuntert die kompendiumartige Anlage des Buches den Leser, es je nach Interessenslage immer wieder zu Rate zu ziehen.

Titelbild

Inge Baxmann / Michael Franz / Wolfgang Schäffner (Hg.): Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert.
Akademie Verlag, München 2000.
621 Seiten, 75,70 EUR.
ISBN-10: 3050034548

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