Vorbemerkung: Von ganz jungen und nicht mehr ganz jungen Autoren

Was ihren Literaturbegriff angeht, so ist die Menschheit seit Platon nicht weitergekommen. So oder so ähnlich formuliert es der amerikanische Schriftsteller William Gaddis (1922 - 1999) in seinem letzten Werk, dem Hörspiel "Torschlußpanik", das - in Thomas Bernhard-Manier - eine große Abrechnung eines enttäuschten Autors mit der Welt inszeniert. Eine Welt, die weder das Werk noch den Dichter zu würdigen weiß, die alle Literatur auf ein dürftig Erlebtes reduziert, ohne Blick für das Kunstwerk selber. In der Praxis der gegenwärtigen Literaturkritik spiegelt sich wider, daß sie keinen Begriff hat von der Literatur: Nach wie vor spielt das biographische Argument in ihrer Argumentationskette die wichtigste Rolle. Ob versteckt oder nicht - fast jede Rezension unterstellt dem literarischen Kunstwerk, daß es (partiell oder zur Gänze) autobiographisch sei und auf Erlebtes zurückgehe.

Nahezu unbeweglich halten die Kritiker an einmal gewonnenen Bildern fest, die in der Regel die weitere Rezeption eines Werkes dominieren, oft eines Lebenswerkes. Wer sich öffentlich die Stirn aufschlitzt, wird zum Grenzgänger zwischen Genie und Wahnsinn gestempelt. Am Autor Rainald Goetz und seinem jüngsten Werk "Rave" wird noch ein anderer Mangel gegenwärtiger Literaturkritik deutlich: Autoren dürfen sich keine Sujets wählen, denen sie - nach Auffassung des Rezensenten - im wirklichen Leben entwachsen sein sollten. Wenn sich ein vierzigjähriger Ich-Erzähler in der Techno-Welt der Zwanzigjährigen tummelt und dann auch noch "Rainald" heißt, dann nutzt es wenig, wenn das Buch als Literatur, als "Erzählung" auftritt: Zwar erfinde der Autor einen Helden und leihe ihm seine Stimme, "in Wirklichkeit" aber sei Goetz selbst "der tapfere Held im Beat der Nacht". Mit Ironie wird die Entlarvung betrieben - und entlarvt sich doch nur selbst als gedanklicher Fauxpas. Bis in den Lebensplan des Autors dringt die Kritik hier vor. Kaum jemand freut sich darüber, daß endlich diese Welt von innen beschrieben wird, und sei es von einem Vierzigjährigen (wenn es schon die Jungen nicht tun).

Die Welt wird in Reviere eingeteilt: die ganz Jungen dürfen über Schule, erste Liebe, Pop und Techno schreiben; die mittleren müssen langsam erwachsen werden (bzw. geworden sein), wozu auch gehört, daß sie einen schlüssigen Plot mit einer von A nach Z erzählten Geschichte hinzulegen wissen; die alten schließlich dürfen sich dann mit ihren verpaßten Möglichkeiten und dem Tod beschäftigen.

Wer glaubt, daß nur in Szene- und Musikzeitschriften der Literaturbegriff wenig entwickelt sei, irrt: Es spielt keine Rolle, ob die Kritiker arriviert sind oder nicht, ob sie in "Spex" oder im "Spiegel" ihre Rezension lancieren, älter oder jünger sind, studiert haben oder nicht. Wo der Kritiker nicht mehr durchblickt, konstatiert er Chaos: "Ob das genial ist oder unlesbar, muß letztlich jeder Leser selbst entscheiden." Falls er in der Literaturwissenschaft ausgebildet wurde, hat er - wenigstens für den Moment - alles Gelernte vergessen. Das Nachsehen haben künstlerische Arbeiten, die aus dem Konventionellen herausfallen, die sich als patchworkartige Gewebe in der Tradition der amerikanischen Pop- und Beat-Autoren präsentieren, oder etwa Konzepte aus der Musik entdeckt haben, zum Beispiel das "Tracking" der DJ-Culture.

Gefällt das Buch dem Kritiker, so ist er begeistert - so jung und schon soviel durchgemacht. Taugt es ihm nicht, so wird der junge Autor zurückgepfiffen: Erleb erstmal was, bevor du Bücher schreibst. Der Fall des 16jährigen Benjamin Lebert und seines Debutromans "Crazy" ist da symptomatisch: Kein Kritiker kann absehen von den Begleitumständen des Erfolges, alle zitieren Elke Heidenreich, die den Roman "mütterlich" rezensiert habe.

Maxim Biller, ein guter Medienkenner, hat sich als erster für Lebert stark gemacht; nun entsetzt er sich über den Medienrummel, der - wie abzusehen - von Verlag und Kritik sofort heftig inszeniert worden ist. Biller versteigt sich zu den merkwürdigsten Argumenten: Er behauptet in einem langen, finanziell einträglichen und eitlen Striemen in der F. A. Z., es wäre für den Jungen besser gewesen, wäre sein Roman unpubliziert geblieben.

Manu Slutzky rezensiert Leberts Roman als gut lesbares Jugendbuch. Kolja Mensing beschäftigt sich mit den neuen jungen Autoren und ihren Lesern, mit den Vermarktungsstrategien der Verlage und dem Konkurrenzdruck im Literaturbetrieb. Helge Schmid zeigt am Beispiel Andreas Neumeisters, daß auch ältere Jungautoren mit poppigen Themen ganz gut zurechtkommen; und Gerhart Pickerodt unterzieht Alexa Hennig von Langes Roman "Relax" einer fundamentalen Kritik.

Lutz Hagestedt