Die Entdeckung des Eises und der Finsternis

Kein Krimi, kein Kolonialroman von Kristina Carlson von Kristina Carlson

Von Christoph Schmitt-MaaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Schmitt-Maaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den vergangenen Jahren verzeichnete die nordische Literatur einen ungeheuren Boom. Literarische Sensationen wie Peter Høeg und Jostein Gaarder waren die Wegbereiter für Bestsellerautoren wie Henning Mankell und Marianne Fredriksson. "Erzählfreude" ist das wohl am häufigsten zu hörende Schlagwort, das die angeblich so kühlen Nordländer und ihren Stil charakterisieren soll. Dabei greifen sie immer wieder auf epische Großformen zurück, erzählen unterhaltsam, ohne Tiefgang allzu sehr vermissen zu lassen.

Dagegen etablierte sich zu Beginn der 90er Jahre eine Gegenströmung, die - obgleich stilistisch vielfältig - zur lyrischen Verdichtung und zur sprachlichen Konzentration neigt. Dabei kann von Subkultur nicht gesprochen werden: alle diese Autoren erscheinen in renommierten Verlagen, erhalten Literaturpreise und - werden gelesen!

Eigenwillig und ungewöhnlich schreibt auch die Finnin Kristina Carlson. Sie erzählt von der wohl berühmtesten Strafkolonie der russischen Zaren (und auch der späteren Sowjets): Sibirien. 1868 allerdings galt dieser unwirtliche Ort am Rande des ewigen Eises als Utopia finnischer Auswanderer. Auch der junge Lennart versucht hier sein Glück. In Nachodka macht er dubiose Geschäfte mit Chinesen und Juden, verliebt sich in zwei Frauen und wird schließlich ermordet. Mit Hilfe seiner Tagebücher und der Aufzeichnungen von Freunden versucht ein Arzt, dem Rätsel seines Todes auf die Spur zu kommen.

Neben einem spannenden Kriminalroman, der die Regeln des Genres unterläuft und aufdeckt, bietet das Debüt der Kinderbuchautorin und Lyrikerin einen reflektierten Umgang mit dem Wesen und Ursprung der Utopie. Für die Finnen, die nach Sibirien kommen, ist die Anverwandlung des europäischen Geistes Ausdruck ihrer Sehnsucht nach Luxus und Lebensstil. Champagner fließt in Mengen, und die neusten Pariser Moden werden vorgeführt. Naturwissenschaft und der Beginn des Kapitalismus kennzeichnen zwei Eckpunkte der Privatisierung von Utopien, die für die Handelnden zum Antrieb werden.

Obwohl zuerst kaum beachtet, wurde das Buch in Finnland ein Bestseller, wohl auch, weil der Autorin der renommierteste Literaturpreis des Landes zugesprochen worden war - der Finlandia-Preis. Das Buch hatte auch deshalb Erfolg, weil es vordergründig einen Mordfall erzählt, dabei aber die Topoi des Kriminalromans hinterfragt und sie literaturgeschichtlich zu dekonstruieren sucht. Carlson erzählt eine lineare Geschichte, sie präsentiert vielmehr ein Konvolut von Erinnerungen, Tagebuchaufzeichnungen, wissenschaftstheoretischen Erörterungen und Fieberprotokollen. Und auch wenn Carlson am Ende (leider) den Mörder präsentiert, auf den (natürlich) kein Indiz hinwies, so kann der Leser sicher sein: hier wird (auch) mit subtiler Ironie die Konstruktion des Krimis auseinandergenommen.

Eine karge, sich nur auf Andeutungen beschränkende Sprache liefert den Rahmen für dieses Reflexionsgeflecht, ohne auf detaillierte Milieuschilderungen verzichten zu wollen. Souverän herrscht Kristina Carlson über Sprache und Struktur, entlockt dem - auch sprachlichem - Verwirrspiel immer neue, ungeahnte Nuancen und schafft so eine beklemmende, klaustrophische Atmosphäre. Das liegt vor allem an der ,langsamen' Sprache der Autorin: sie überrascht den Leser nicht mit unvorhergesehenen Wendungen, sondern lässt ihn - wie ihren ans Bett gefesselten Protagonisten - gleichsam in Agonie erstarren. Kein Kolonialroman, kein Kolportagekrimi - die "Geschichte des Geistes und der Seele" wollte Carlson erzählen. So markiert der weiße Fleck auf der Landkarte - Sibirien - die innere Situation Lennarts: seine Rekonstruktion des Geschehens gleicht einer Entdeckungsfahrt in graues Eis und schlammige Wiesen. Eine lesenswerte Entdeckungsfahrt, die auch nach dem zweiten Lesen noch spannend bleibt.

Titelbild

Kristina Carlson: Ins Land am Ende der Welt. Roman.
Übersetzt aus dem Finnischen von Stefan Moster.
Wissenschaftlicher Verlag Berlin, Berlin 2000.
208 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3828601375

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