Funktionärsposse

Monika Marons frühe Erzählung "Herr Aurich"

Von Eike BrunhöberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eike Brunhöber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Als er dicht hinter der ahnungslosen Spinne stand, hob er die Fußspitze und schob sie über das Tier. Das Wort Guillotine fiel ihm ein. Er ließ die Fußspitze langsam sinken, nicht zu langsam, damit die Spinne ihm nicht in letzter Sekunde davonlief, aber auch nicht schnell, sonst könnte er das Geräusch nicht hören, dieses leise Knacken, wenn der Spinnenkörper unter dem Druck seines Fußes auseinanderbarst." - Erich Aurich, gerade auf das Altenteil geschobener ehemaliger SED-Funktionär, sucht verzweifelt nach einem Leben nach dem Arbeitsleben. Kurz zuvor, als hochrangiger Diener des Arbeiter- und Bauernstaates, war er noch gleicher als andere, doch nun bleibt ihm nur noch sein Privatleben - und damit gähnende Leere. Denn selbiges ist genauso blutleer und totalitär, wie es seine Funktionärstätigkeit gewesen ist. So gibt es denn auch nur eines, was den verdienten vormaligen Würdenträger erregt: Das Heranpirschen an jedwede Schutzwälle ignorierende Spinnen im heimatlichen Wohnzimmer. Die Entsorgung des plattgetretenen Insektenkadavers obliegt der Ehefrau.

Das Wort DDR fällt an keiner Stelle der Erzählung, ist in Monika Marons Karikatur der Parteifunktionäre und ihrer kleinbürgerlichen Alltagswelt jedoch allgegenwärtig. Monika Maron schrieb ihre kurze, satirische Erzählung "Herr Aurich" nicht etwa zu Wendezeiten; 1979, mitten in der Blütezeit der Honecker-Dekade, entstand sie und wurde 1982 in dem Band "Das Missverständnis" zusammen mit drei anderen Erzählungen und dem Stück "Ada und Evald" im Westen veröffentlicht. Anlässlich des sechzigsten Geburtstages Monika Marons bringt der S. Fischer-Verlag "Herr Aurich" nun als Einzelausgabe heraus. Damit lenkt er den Blick auf eine Motivik, die im Schaffen Monika Marons bei weitem nicht die einzige, aber eine immer wiederkehrende ist: das letzte Jahrhundert deutscher Mentalitäts- und Zeitgeschichte, dargelegt in Werken wie "Pawels Briefe" (1999) oder "Flugasche" (1982).

Die detailverliebte und bildhafte Sprache der Funktionärsposse zeigt in ihrem Beziehungsreichtum den besonderen Blick der 1988 aus Ost-Berlin in die Bundesrepublik emigrierten Autorin für die Machtmechanismen der DDR-Gesellschaft: Ob nun der die ganze Nacht mit Schrotflinte verbissen unter der Hecke seines Kleingartens Kaninchen auflauernde SED-Funktionär in "Flugasche" oder eben der Spinnen zertretende Herr Aurich: Der SED-Staat lebte nicht allein von der Machtbesessenheit seiner obersten Spitze; er brauchte außerdem einen großen Stab in Wirklichkeit visionsloser, uninspirierter, dafür aber umso karrierebesessenerer spießiger deutscher Kleinbürger, die im Staatssystem vor allem die Möglichkeit zu einem Aufstieg in der gesellschaftlichen Rangordnung sahen; die für ihr Fortkommen auf der Hühnerleiter der Karriere sämtliche Rücksichten fallen ließen und in bedenkenlosem Gehorsam flügelschlagend mittaten, die erstrebte Hackordnung zu etablieren. Die Kadaver der Zertretenen entsorgte der nächstuntere Dienstgrad.

Titelbild

Monika Maron: Herr Aurich. Erzählung. Mit einem Nachwort von Katja Lange-Müller.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
60 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 3100488164

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