Abschied von den Sonderwegen

Andreas Wirschings "Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert"

Von Philipp StelzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Stelzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

100 Jahre deutsche Geschichte auf etwa 120 Textseiten darzustellen, ist kein ganz leichtes Unterfangen. Andreas Wirsching, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Augsburg, möchte auf solch knappem Raum jedoch nicht nur Basisinformationen vermitteln, sondern gleichzeitig einige Interpretationsmöglichkeiten vorstellen. Somit sind die Erwartungen hoch gesteckt, zumal deutsche Historiker in den letzten Jahren sowohl ausführliche (Heinrich August Winkler: "Der lange Weg nach Westen") als auch knappere (Eberhard Jäckel: "Das deutsche Jahrhundert") Deutungen der deutschen Geschichte im vergangenen Jahrhundert vorgelegt haben.

Eine wichtige Rolle spielt für Wirsching die Frage nach einem deutschen "Sonderweg" in das 20. Jahrhundert. Viele wird das überraschen, schien doch diese in den 1960er und 1970er Jahren so einflussreiche Lesart der deutschen Geschichte zwischen 1871 und 1945 nach heftiger konservativer wie marxistischer Kritik schon seit längerer Zeit aus der Mode gekommen zu sein. Zwar weist Wirsching darauf hin, dass viele Probleme des jungen deutschen Nationalstaats wie Klassengegensätze (in Großbritannien) oder ideologische Konflikte (in Frankreich) auch die Gesellschaften in anderen europäischen Ländern beschäftigten und destabilisierten, aber er stellt doch fest: In der "unerbittlichen Gleichzeitigkeit ihrer Gegensätze liegt das Besondere der deutschen Geschichte". Dies habe schließlich - ebenso wie der unausgetragene Verfassungskonflikt - dazu geführt, dass das Kaiserreich zu einer Reform aus eigener Kraft nicht mehr in der Lage gewesen sei.

Bei den meisten der in der Forschung lange umstrittenen Fragen wie der deutschen Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs oder dem Sinn der pragmatischen Politik der Mehrheitssozialdemokratie am Ende desselben nimmt Wirsching eine vermittelnde Haltung ein, nicht ohne knapp die Gründe für die Ablehnung der anderen Positionen zu nennen. Dies ist ebenso hervorzuheben wie ein anderer großer Vorzug des Buches: Anstatt die Argumentation der "Gegenseite" bis ins Groteske zu überzeichnen, um anschließend die eigenen Thesen umso überzeugender dagegen absetzen zu können, wie es unter prominenten deutschen Historikern leider vielfach üblich ist, präsentiert der Autor auch von seiner Meinung abweichende Positionen in einer Weise, die es dem Leser ermöglicht, sich ein eigenständiges Urteil zu bilden.

Für die Weimarer Republik betont Wirsching die für ihre Entwicklung maßgebliche Rolle einzelner Personen wie etwa die Friedrich Eberts oder Gustav Stresemanns, deren früher Tod mehr als nur symbolische Bedeutung besaß, ohne deshalb strukturelle Entwicklungen wie den sich radikalisierenden Generationenkonflikt oder den Rechtsruck des Bürgertums aus den Augen zu verlieren. Ebenso wird deutlich, dass der Kampf großer Teile der Industrie gegen die 1918 von den Gewerkschaften erreichten sozialpolitischen Errungenschaften sich rasch gegen den demokratischen Staat insgesamt richtete.

Vergleichsweise breiten Raum nimmt die Schilderung des Übergangs von der Weimarer Republik zur nationalsozialistischen Diktatur ein, wobei Wirsching die diesbezügliche Verantwortung einzelner Politiker wie Papen oder Schleicher hervorhebt. Er verweist ferner auf das ungeheure Tempo, mit dem die Nationalsozialisten ihren Machtanspruch durchsetzen konnten, ohne jedoch anzumerken, dass dies auch auf die Bereitschaft bedeutender Teile der Gesellschaft zurückzuführen war, sich gleichschalten zu lassen oder gar am Aufbau des neuen Staates mitzuwirken. Gerade die von Wirsching an dieser Stelle genannten Universitäten hätten ein geeignetes Beispiel dafür abgegeben.

Andererseits fällt der Autor durchaus klare Urteile, wenn sich die Frage nach der Rolle einzelner gesellschaftlicher Gruppen im nationalsozialistischen Deutschland stellt. Schon früh, im Sommer 1934, sei die Wehrmacht "im Namen der Befehlserfüllung zum Mittäter in Hitlers Reich" geworden, auch wenn sie sich noch längere Zeit "teilautonome Handlungsfelder" habe bewahren können. Ähnlich deutlich äußert Wirsching Kritik am Schweigen der Kirchen zur nationalsozialistischen Judenverfolgung. Letztere, die schließlich im millionenfachen Mord gipfelnde Verfolgung der europäischen Juden, ist für ihn nur durch den Blick sowohl auf die Intentionen der Spitzen des Regimes als auch auf die Strukturen des NS-Staates erklärbar; ebenso betont er, dass sich die Rolle Hitlers als starker Diktator und die für das NS-Regime typische Polykratie keineswegs ausschlössen. Hier zeigt sich wieder Wirschings Bemühen, gegensätzliche Positionen miteinander zu verbinden.

Knapp und überzeugend legt Wirsching dar, warum das Jahr 1945 in mehrfacher Hinsicht als tiefste Zäsur der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts zu betrachten ist. Die Entwicklung der Bundesrepublik beschreibt er als Erfolgsgeschichte, in der die innen- wie außenpolitischen Kontinuitäten gegenüber den Brüchen dominiert hätten. So habe etwa die sozialliberale Gesellschaftspolitik auf den Vorarbeiten der großen Koalition, die Außenpolitik Kohls auf den Erfolgen Brandts und Schmidts aufbauen können. Doch auch die gesellschaftlichen Konflikte der 1970er und die wirtschaftlichen Probleme der 1980er Jahre erhalten angemessenen Raum.

Im abschließenden Kapitel über die Zeit nach der Wiedervereinigung zieht Wirsching eine Parallele zwischen der Situation des Kaiserreichs zu Beginn des 20. und der Bundesrepublik zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Wie die wilhelminische damals, so stünde auch die bundesdeutsche Gesellschaft heute vor einer Epoche der Ungewissheit, zu deren Bewältigung das "historisch gesättigte Erfahrungs- und Orientierungswissen" nicht ausreiche. Angesichts dieser Herausforderung mahnt der Autor die Deutschen zur Wachsamkeit, um das erneute Abdriften auf etwaige Sonderwege zu vermeiden.

Ergänzt wird der Text durch ein sehr knappes, aber dennoch sowohl Standardwerke als auch Neuerscheinungen berücksichtigendes Literaturverzeichnis. Lediglich die Auswahl der Titel über das Kaiserreich ist ein wenig einseitig. Dies ändert indessen nichts am Gesamturteil: Andreas Wirsching hat eine rundum empfehlenswerte "Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert" geschrieben, die trotz ihres geringen Umfangs um vieles differenzierter ausgefallen ist als manches voluminösere Buch zum Thema.

Titelbild

Andreas Wirsching: Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert.
Verlag C.H.Beck, München 2001.
128 Seiten, 7,60 EUR.
ISBN-10: 3406447651

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