Fabelhafte Geschäfte

Martin Mosebach entdeckt herrenloses Land

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

13. Juni 1898. An der Steilküste der Bären-Insel, hinter dem Bürgermeisterhafen, liegt einsam ein Grabmal und blickt über den meteorologischen Observationsplatz aufs Nordmeer. Es ist das Märtyrergrab der Altgläubigen, die einst - von der russisch-orthodoxen Kirche verstoßen - hier siedelten. In dieser Polarmeerinseleinsamkeit, wo es keine Infrastruktur gibt und man tagelang nichts hört als das Geschrei der Seevögel, hielten sie sich versteckt. Beim Russengrab liegt einsam eine Hütte, deren Dach eingeknickt ist - und all das ist alt wie aus vergessenen Jahrhunderten. Man sieht hier und da Schleifspuren, Zeichen menschlichen Lebens vielleicht, auch die schwedische Karte erweckt durch ihre Legenden den Eindruck von Geschichte und Zivilisation: "Es war auf der Bären-Insel also schon gestorben und beerdigt worden."

Eine Insel wie eine breite, unwirtliche Terrasse, das halbe Jahr über im Eismeer eingeschlossen, ausdruckslos, bedeutungslos, ein Wahnsinn, hierher aufzubrechen und sie für das Deutsche Reich in Beschlag zu nehmen. Für das Deutsche Reich? Reichskanzler Hohenlohe und seine Berater zögern zurecht, das diplomatische Gleichgewicht zwischen Berlin und Sankt Petersburg in Frage zu stellen. Denn Russland erhebt mit größerem Recht Anspruch auf das Niemandsland im Nebel, und so bleibt die Expedition der deutschen Staatsangehörigen Theodor Lerner und Hugo Rüdiger reine Privatsache. Die "Erwerbsurkunde", die sie in einer leeren Cognacflasche auf der Insel deponieren, muss "dem Schutz jedes rechtlich Denkenden anheimgestellt" werden.

Die Hauptfigur in Martin Mosebachs neuem Roman, der "Nebelfürst" alias Theodor Lerner, ist historisch verbürgt. Der Journalist nahm tatsächlich - im Auftrag eines Hamburger Syndikats - die Hälfte der Insel 1898 in Besitz. Die Gründe dafür liegen im Ungewissen oder klingen abenteuerlich. Die Geschichte schmeckt auch nur wenig nach der großen Politik der Kolonialmächte oder nach bedeutenden wirtschaftlichen Interessen. Auf der Insel sollen zwar vorzügliche Steinkohleflöze liegen, doch die Ausbeute wäre bescheiden. Mosebach wählt daher eine elegantere Lösung, Lerners Abenteuer zu motivieren. Er schubst ihn in die Fänge der Hochstaplerin Helga Hanhaus und ihres missratenen Sohnes Alexander. Die reife Matrone bezieht ihre Wirklichkeit aus der Zeitung. Selbst in größter Not greift sie zum Nordischen Format und studiert die Todesanzeigen, die kleinen Meldungen, die Berichte und Reportagen aus aller Welt. Wenn "die Flügel einer Zeitung" ihren klugen Kopf umgeben, ist Rettung nicht fern. "Der Eisbär des Berliner Zoologischen Gartens im Alter von zwanzig Jahren plötzlich verstorben", heißt es da, und sofort steht die Frage im Raum: Braucht der Berliner Zoo nicht dringend Ersatz? Und wäre nicht Zoodirektor Dr. Heck willens und in der Lage, ein Schiff auf die Bären-Insel zu entsenden? Und könnte dies nicht auch den eigenen Zwecken dienlich sein?

Eine seltsame Geschichte kommt da in Gang und entfaltet die reiche Metaphorik des Wasserdampfs. Betrüger, Hochstapler, Heiratsschwindler und dergleichen brauchen den Schleier des Ungefähren. Sie sind, ähnlich wie die Dichter, Nebelwerfer: plötzlich da wie Deus ex machina, gewandt, welterfahren, liebesbereit, leider mittellos, sie wecken Hoffnungen, versprechen Glück, eröffnen Perspektiven, schröpfen ihre Opfer und verschwinden wieder im Sfumato, geprellte, gebrochene, gedemütigte Existenzen zurücklassend. Repräsentanten der Undurchdringlichkeit der menschlichen Seele.

Es ist Mosebachs Kunst, eine Hauptfigur agieren zu lassen, die nicht voll im Bilde ist: Seine Erzählung ist der Perspektive Theodors angenähert, aber der agiert nicht auf der Höhe der Ereignisse, sondern hält an seinem Glauben eisern fest, es gehe bei der Bären-Insel letztlich doch um ein reelles Geschäft. Er hat wohl bisweilen das Gefühl, vom Schicksal geführt zu werden, auch an der Nase herumgeführt zu werden, aber er ist derart begriffsstutzig, dass es schon fast weh tut. Wie eine Marionette mit schwerem Holzkopf folgt er fremdbestimmt den Bewegungen der Helga Hanhaus und ihrer zwielichtigen Freunde. Seine Deutung einer kleinen Allegorie - drei Ameisen zerren an einer toten Fliege wie Spekulanten an der Bären-Insel - belegt, dass er die Spielregeln nicht begriffen hat. Schließlich fühlt er sogar die Pflicht, "seinen Fall dem Kaiser darlegen" zu müssen.

"Der Nebelfürst" ist Martin Mosebachs sechster Roman. Daneben gibt es von ihm Erzählungen, Gedichte, Stücke, Drehbücher und Hörspiele. Sein Erzählen sei altfränkisch, schrieb ein Kritiker anlässlich des Romans "Westend" (1992) und verstand dies als Einwand. Zugleich aber fand diese Kritik ihren Weg von der dargestellten Welt zur Welt der Darstellung und formulierte genau das, was Mosebachs Bücher ausmacht: Sprache und Stil in der Tradition der großen Erzähler. Das schmeckt nach der Epigonalität abgelebter Welten und epischer Fossile, die uns gar nichts mehr angehen - und das Sujet aus dem 19. Jahrhundert tut das Seinige dazu. Doch so muss es nicht sein, denn noch in bewegten künstlerischen und sozialen Umbruchsphasen wird Meisterhaftes geschrieben - man denke nur an Uwe Johnsons "Jahrestage", die bei all ihren Manierismen und Umständlichkeiten höchst spannungsvoll intoniert sind. So auch Mosebach in seinen jüngsten Romanen "Die Türkin" (1999), "Eine lange Nacht" (2000) und jetzt "Der Nebelfürst". Die straffen Zwischentitel etwa zeugen von Erzählökonomie und narrativer Kontinuität; man kennt sie von Döblin ("Berlin Alexanderplatz"), Thomas Mann ("Der Zauberberg") oder auch Hans Fallada ("Kleiner Mann, was nun"), dem hier - vielleicht - Reverenz erwiesen wird: "In dem Torweg einer Ritterburg, an einem zugigen steinigen Ort, hing einst der Kopf des Märchen-Pferdes Fallada, das auch nach seiner Enthauptung nicht aufhörte zu sprechen." Der Märchenton leitet ein Kapitel ein, in dem es um Etikette geht und damit um eine soziale Realität. Falladas Märchenschloss ist längst dem modernen Palast des Herzog-Regenten gewichen, und nur die Etikette bewahrt den Adel letztlich davor, sich von Lerner die Bären-Insel aufbinden zu lassen: "Der Herzog hätte niemals davon geträumt, auf anderer Leute Land lauthals zu erklären, das gehöre jetzt ihm, und auf herrenlosem Land seltamerweise schon gar nicht - einfach etwas nehmen, bloß weil es niemandem gehört -, unbegreiflich." Die Etikette aber, das zeigen die Erwägungen des Herzogs auch, ist in Bewegung geraten, und Lerner, der seine Interessen mit Nachdruck, ja geradezu drängend vertritt, hat Eindruck gemacht, fast wie ein "erster deutscher Gentleman". Es fehlte nicht viel, und die Herren von Stande ließen sich zu einem ungewissen Abenteuer verleiten. Mit wenigen Strichen, auf knappstem Raum, zeigt uns Mosebach die alte und die neue Welt in einem labilen Schwebezustand.

Ein Spannungsmoment liegt in der geheimen Teleologie der Ereignisfolge: Dem Zweifel der Existenz entkommen die Figuren durch die Erkenntnis der Liebe. Die Begegnung mit Konsul Beressnikoff, einem russischen Diplomaten, entlockt auch der Hochstaplerin Hanhaus bestürzende Einblicke in ihre geistige Verfassung; und Fräulein Ilse wächst schließlich die Aufgabe zu, den tumben Theodor aus Traum und Nebel zu erwecken. Fräulein Ilse, eine Grazie mit typischer Handbewegung, wird mit sparsamsten Mitteln charakterisiert: Sie führt eine Strähne ins hochgesteckte Haar zurück oder fröhnt ihrer Leidenschaft für Zigaretten mit goldenem Filter.

Mosebachs Roman ist eine Form erzählerischer Landnahme und führt vor, was Literatur eigentlich ist: eine Reise ins Blaue hinein, für den Autor ebenso wie für den Leser. In diesem Fall existiert zwar das historische Sujet, aber das ergibt bis auf wenige dürre Daten nicht viel. Im übrigen ist Literatur nicht Abbildung von Wirklichkeit, sondern Abstecken von Wirklichkeit, dem Modell der Goldgräber vergleichbar, die sich ihren Claim sicherten, ohne zu wissen, wie einmal die Ausbeute sein würde. Kühner noch war der Vertrag von Tordesillas (Anno 1494), in dem Spanien und Portugal die noch unentdeckte Welt unter sich aufteilten. Wieder andere erwerben UMTS-Lizenzen und halten das für ein fabelhaftes Geschäft. Wer also bislang glaubte, dass die Welt vollständig erobert und kartiert sei, der wird laufend eines Besseren bekehrt. Wie geschickt ist es da von Martin Mosebach, seine Figuren (und Leser) durchs Ungewisse ins Glück zu führen. Der "herrliche, außerordentliche Gewinn", der "am Ende allen Wirkens" stehen sollte, fällt für alle Seiten überraschend aus.

Titelbild

Martin Mosebach: Der Nebelfürst. Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
352 Seiten, 27,60 EUR.
ISBN-10: 3821845066

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