Abendschimmer, Morgenrot, da kommt unser Name her

Péter Esterházys bedeutendes ungarisches Epos "Harmonia Cælestis"

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dies ist ein grausames Buch, Leser! "Und jetzt, als würdiger Sohn seines Vaters, streckt der Sohn meines Vaters seine Hand Richtung meines Vaters aus und verpaßt ihm mit seinen an Stahlfedern erinnernden Fingern einen Nasenstüber. Und die Augen meines Vaters fließen in den Borschtsch hinein, sein Gehirn quillt aus seinen blutigen Augenhöhlen. Mein Vater reibt sich mit einer kindlichen Bewegung der Handrücken die schwarzen Höhlen und fängt blind zu weinen an. Die Augen meines Vaters: eine unendliche Sackgasse."

Die Bilder extrem, die Sprache derb, die Namen unwichtig - so tritt uns "Harmonia Cælestis" entgegen, das ultimative Opus magnum des ungarischen Erzählers Péter Esterházy (geboren 1950). "Harmonia Cælestis" besteht aus zwei Büchern: Die 371 numerierten Prosavignetten ("Sätze") des ersten Teilbuchs erzählen "aus dem Leben der Familie Esterházy", die 201 Kapitel des zweiten präsentieren "Bekenntnisse einer Familie Esterházy". Die Betonung liegt auf einer, denn dem Vorsatz zufolge sind die Figuren der "Romanbiographie" frei erfunden: "Sie besitzen nur auf den Seiten dieses Buches Heimatrecht und Persönlichkeit, in Wirklichkeit leben sie nicht und haben auch nie gelebt."

Autoren lieben solche Vorreden, die das frei Erfundene mit lauten Wahrheitsbekundungen und das tatsächlich Verbürgte mit gegenteiligen Beteuerungen begleiten. Den Leser erreichen sie damit nicht, denn für ihn ist "alles zugleich erfunden und nachgeahmt" (Goethe), so dass sich, wer sich unterhält, auch bildet und vice versa. "Harmonia Cælestis" ist zweifellos ein Bildungsroman, selbst dort noch, wo die Bildung in Barbarei mündet und münden muss und das Bekenntnis zum Geständnis wird: "Mein Vater packte am 22. Juni dieses Jahres, quasi zur Sonnenwende, die Dienstmagd Janka Motta, meine Mutter, und vergewaltigte sie; während des Aktes biß er meiner Mama das Ohr und die Nasenspitze ab und riß sich auch aus den Brüsten und den Schamlippen je ein Stückchen heraus."

Wie in den großen Epen geht Schuld über individuelle Verantwortlichkeit hinaus. Jedes neue Leben, jedes neue Familienmitglied bietet Anlass zu Traurigkeit: Entweder wird es "begünstigt" sein (und die andere schmerzhaft spüren lassen), oder es wird in sozialer, körperlicher und seelischer Agonie dahinschwinden. Das feudale Leben ist kein Ort feiner Sittsamkeit und keine "Brutstätte der reinen Keuschheit", im Gegenteil, man genießt den Skandal, man ist in politischer, moralischer und religiöser Hinsicht korrumpiert, und wenn unsere Geschichtsbücher ein fürstliches Geschlecht mit dem "Streben nach hehren Zielen" gleichsetzen, so ist dies freche Unwahrheit im Dienste derer, die Geschichte machen.

Anders Péter Esterházy. Er singt von schrecklichen Übergriffen der Männer auf die Frauen und der Väter auf die Kinder. Er spricht von Trunksucht, sexuellem Missbrauch, Waschzwang, Bettnässen, Kleptomanie auch in den besseren Kreisen, von Altern, Siechtum und Tod in allen denkbaren Variationen. Der Vater - einer der namenlosen Väter - stürzt die Mutter in die Tiefe des Türkenbrunnens und zählt die Sekunden; ein anderer stößt den eigenen Sohn aus dem Viehwaggon, den Nazischergen vor die Füße; ein dritter verspürt Lust, der werdenden Mutter in den Bauch zu treten oder sie zu vergewaltigen; ein weiterer bedrängt des nachts den eigenen Sohn: "Er fürchtete sich und weinte (der Sohn meines Vaters). Später freute er sich über das Keuchen, denn er wußte, dass es dann bald vorbei war (mit allem, also auch meinem Vater). Beim ersten Mal erbrach er sich. Dann bekam er Fieber, ging am nächsten Tag gar nicht zur Schule."

Es gibt gute und schlechte Menschen - und beide kommen sie in den besten Familien vor. Vergangene Noblesse aber ist eher ein Nebenaspekt, mit ironischem Gestus erzählt. Der erste Teil der "Harmonia Cælestis" liest sich wie eine Springprozession durch die Geschichte der Gewalt und erinnert entfernt an ein Ratespiel aus Kindertagen: "Mein Teekesselchen", hieß es da etwa, "ist nach dem Abendstern benannt", "Mein Teekesselchen war ein großer Heerführer, in Duellen, in der Heerführung suchte er seinesgleichen", "Mein Teekesselchen war ein hoher Herr, Revisor beim Wasserwerk". Das Teekesselchen war der Platzhalter für das gesuchte Wort, und es musste so lange umschrieben und spezifiziert werden, bis es erraten war. Bei Péter Esterházy geht es ähnlich zu: "Ich hatte einen entfernten, geheimnisvollen Meinvater - nennen wir meinen Vater so - um dessen Wiege die letzten Mondlichter des alten Jahrhunderts und das erste Morgenrot des neuen spielten; esthajnal, Abendschimmer, Morgenrot, da kommt unser Name her."

Die Antworten in diesem Ratespiel scheinen leicht zu sein, lauten sie doch immer "Esterházy". Doch kommt es auf die Feinheiten an: "Im Jahre 1711 erschien in Wien seine Sammlung sakraler Gesänge unter dem Titel ,Harmonia Cælestis'. Infolgedessen registrierte die ungarische Musikgeschichte meinen Vater bis dato auch als hervorragenden Komponisten." Hier ist Pál Esterházy (1635-1713) gemeint, während jener "Meinvater", der Maria Theresia diente und Joseph Haydn eine Sinecure einrichtete, einen anderen Esterházy bezeichnet, Nikolaus Joseph (1714-1790), Graf zu Forchtenstein, dem seinerseits viele Esterházys vorausgegangen bzw. nachgefolgt sind, Väter, die alle Nikolaus oder Pál (Paul) hießen, bisweilen aber auch Anton, Moritz oder gar Péter und sich auf verschiedene Zweige dieser Dynastie verteilten. Und da die Meinvater-Erzählungen nicht der historischen Chronologie folgen, vielmehr als nebengeordnete kleine Stücke oder Mosaiksteine erscheinen und immer wieder aufblitzen, ist es nicht leicht, sich zu orientieren.

Es wäre auch falsch, sich auf diese Lesart zu beschränken, denn wir haben es hier nicht allein mit einer Familiengeschichte zu tun. So mancher Meinvater ist gar kein Esterházy, sondern eine Kirche ("In Rumänien wurde eine Kopie meines Vaters erbaut"), ein Gemälde ("Die Fachliteratur legt die Entstehungszeit meines Vaters in die frühen zwanziger Jahre"), eine Gestalt aus der griechischen Mythologie ("Eines Tages aber bekam mein Vater von einem Seher unerwartet den Rat, er möge seine engere Patria verlassen, sonst würde er unwillentlich und zwangsläufig der Mörder seines Vaters und Buhle seiner Mutter"), ein Hund ("Entlaufen: reinrassiger Meinvater") oder gar ein bedeutender Autor wie Thomas Mann, genannt "der Zauberer" ("dies unser Name für ihn"). Manchmal ist Meinvater "nicht der Rede wert", dann wurde er als Jude doportiert, bisweilen steht er für glanzvolle Scheitelpunkte der Geschichte, meist aber für persönliche Niederlagen. Mit dem Kontext wechselt er seine Gestalt und seine Bedeutung.

"Mein Vater ist eine komplexe Komposition", heißt es zurecht, und die zahllosen Anspielungen auf die schöne Literatur, auf Horaz und Goethe, Dante und Rilke, Sainte-Beuve und Thomas Mann, Stendhal, Joseph Conrad oder Raymond Chandler gestatten es, hier auch von einer Literaturfamilie zu sprechen. So manche Wendung, so manche Geschichte, die Esterházy hier aufbietet, ist anderswo entlehnt, sei es aus den "Märchen von Tausenundeiner Nacht" oder den modernen Epen der europäischen Literatur. Sein Buch vereinigt Volkserzählung, episches Pathos, vorstädtischen Jargon, "allergewöhnlichsten Wiener Dialekt", feinste Ironie, herben Sarkasmus. Der sprachliche Registerwechsel, die Bandbreite des Erzählens, ist enorm und wird von Terézia Mora, die dem Autor ihre deutsche Stimme leiht, fulminant bewältigt. Die Übersetzung trifft die "edle Archaik einiger seiner Wendungen" ebenso wie die zahllosen Manierismen, den enormen Spielwitz und die derbe Rücksichtslosigkeit der Bilder. Das Buch scheint darüber hinaus vorzüglich lektoriert zu sein.

Der erste und der zweite Teil von "Harmonia Cælestis" sind sich ähnlich - und unterscheiden sich doch beträchtlich. Besteht der erste Teil aus lauter Schlaglichtern, Mikrogeschichten, Anekdoten, toposhaft versetzbaren Einzelbildern der Historie, so lässt der zweite Teil auch lineares Erzählen zu, orientiert sich stärker an der Tradition und spielt im Untertitel auf Sándor Márais berühmten Roman "Bekenntnisse eines Bürgers" (1934) an. Der Leitfaden dieser fiktiven Biographie deutet auf den Autor selber, denn der Ich-Erzähler operiert mit der Fiktion, dass er mit Esterházy identisch sei: 1950 wie dieser geboren, wird er mit einem System konfrontiert, das vom alten Glanz der Monarchie kaum mehr etwas übrig gelassen hat. Der Großvater war 1917 noch ungarischer Ministerpräsident gewesen, aber seit den Tagen von Béla Kuns Räterepublik wurde die Familie gedemütigt und enteignet, wurde der Vater vom Geheimdienst gefoltert und noch der Sohn des Vaters in Sippenhaft genommen, von Lehrern benachteiligt und beschimpft.

"Harmonia Cælestis" ist aber auch ein komisches Buch, Leser! Die Geschichte der eigenen Familie ist für Péter Esterházy keineswegs ein Trauerfall, im Gegenteil. Er hat Distanz zu den Altvorderen und findet es absurd, dieser großen Vergangenheit nachzutrauern. Ihr Ende lässt sich auch als Befreiung lesen von einer großen Last und Verantwortung, mit der ein Schriftsteller wenig anfangen könnte. So ist er froh, kein langweiliger Graf zu sein - und die verkehrte Welt der Herrschafts- und Dienerschaftsverhältnisse nach der Machtübernahme durch die Kommunisten gibt Esterházy zu mancherlei Spott Anlass. Die neuen Herren mögen die feudalen Strukturen zerschlagen haben und "in den Besitz der Sprache gelangt" sein, einen Dichter behindern sie nicht, sondern beeindrucken ihn durch das Material, das sie ihm liefern. Revolutionär Károly Sterk beispielsweise, der das Schloss der Familie "kommunisieren", das heißt "höheren Zwecken" zuführen soll, benimmt sich wie ein schlechter Butler: "Er sagte, er sei Kommunist aus fünfzehnjähriger Überzeugung. Ich sagte, ich sei Katholik aus dreihunderfünfzig Jahren Überzeugung."

Die Auseinandersetzung der Aristokratie mit den Zumutungen des 20. Jahrhunderts wurde lange auf der Grundlage des horazischen "odi profanum vulgus" geführt. Péter Esterházy wählt ein anderes Medium - das der Ironie. Sein Mittel ist die Komik, die satirische, ja sarkastische Überzeichnung des habsburgischen Kulturkreises und seiner Herrscherfiguren, von Maria Theresia über den vormärzlichen "guten Kaiser Franz" bis hin zu den Knallchargen der ungarischen Räterepublik, die in nur 133 "glorreichen Tagen" all dem ein Ende bereiteten, was die alte Welt einmal auszeichnete. Wenn "auszeichnen" das richtige Wort dafür ist. Für Esterházy ist das sogenannte Historische eine Goldgrube der Sprache, ist die sogenannte Familie eine Erzählgemeinschaft, der sich eine ganz eigene Bilderwelt ablauschen lässt: "Keine billige Anekdote, die nicht zu etwas zu gebrauchen wäre." Der Gebrauch, den Péter Esterházy davon macht, zeugt von einem unabhängigem Kopf, einem erfahrenen Autor, einem dynamischen Erzähler, einem großen Stilisten, dem man den Respekt nicht versagen darf.

Postscriptum: Zu "Harmonia Cælestis" hat der Berlin Verlag einen Band "Marginalien" vorgelegt (herausgegeben von Delf Schmidt, Bestellnummer 263-89033), der ein Gespräch enthält zwischen Péter Esterházy und Wend Kässens, Anmerkungen der Übersetzerin Terézia Mora, ein Verzeichnis der Referenz- bzw. "Gasttexte" zu Esterházys Roman sowie zwei Essays von László F. Földényi und Julianne Wernitzer. Einige Abbildungen und eine Hommage des Autors à Danilo Kiš runden den Band ab.

Titelbild

Péter Esterházy: Harmonia Caelestis.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Terezia Mora.
Berlin Verlag, Berlin 2001.
800 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3827004055

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