Das dunkle Herz der Welt

Ilse Aichingers besondere Autobiographie "Film und Verhängnis"

Von Ingeborg GleichaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ingeborg Gleichauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Autobiographisch schreiben heißt für Ilse Aichinger den nie bewusst gewordenen Erinnerungen nachgehen. Um eine Suche geht es, niemals um ein Finden. "Erinnerung begreift sich nicht zu Ende", und das bedeutetim Zwischenreich von Vergessen und Wissen einzurichten, für diesen Ort die Bilder zu finden, die Orte zu kennzeichnen.

Welches Medium wäre dafür besser geeignet als der Film? Und deshalb ist es ganz natürlich, dass Aichinger sich in ihrem neuen Buch als begeisterte Kinogängerin offenbart. Sie nennt das Kino mit Joseph Conrad das "Herz der Finsternis". Es lebt vom Verschwinden, vom Untertauchen, vom Tod. Es ist das schwarze Loch, aus dem Bilder aufsteigen. Aichinger erzählt von ihrer Erfahrung mit Filmen wie "Der dritte Mann" oder "Il Gattopardo", sie schreibt über Regisseure und Schauspieler. Dabei stellt sie eigentümliche Verbindungen her, so zum Beispiel zwischen Humphrey Bogart und Flaubert.

Die Beziehung, die über allen anderen Bezügen liegt, ist die zwischen dem Film und dem "Verhängnis" des Jahrhunderts, in dem Aichinger lebt. Es ist vor allem die Zeit des Nationalsozialismus, in der viele ihrer Verwandten umkamen, die ihre Arbeit nach 1945 maßgeblich beeinflusst hat. Sie hat das Verschwinden, das sie bei anderen erlebt hat, zu ihrer Aufgabe gemacht. Sich verbergen, um nur umso deutlicher von den anderen zu sprechen. Sie erinnert sich an Personen aus der Jugend, die Klavierspielerin, die Tochter des Germanisten, die Tochter des Kohlenhändlers. Und sie bemüht sich um Genauigkeit, "die gerade im Bereich der Liateratur leicht abhanden kommt." Genauigkeit findet Aichinger auch in den Fotographien von Bill Brandt, von denen einige zu den Themen dieser besonderen Autobiographie gehören. Die Dichterin wirft Blicke auf ihr Leben, indem sie all die Momente aufspürt, in denen sie intensiv geschaut hat. Die Worte und das Sehen, das Wissenwollen und das Schauen, eine uralte Konstellation, auf ungemein spannende Weise von Neuem erfunden. Ilse Aichinger gibt ein Stück von sich preis, das ihre Leser bisher nicht kannten. Es ist, als hätte sie das mit dem Verschwinden nie ganz ernst gemeint. Nie war sie präsenter als in diesen "Blitzlichtern auf ein Leben".

Titelbild

Ilse Aichinger: Film und Verhängnis.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
207 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3100005236

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