Spätantike Männerkreise

Konstantinos Kavafis' poetische Historiographie

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Hatte das vielbesungene / Byzanz / Nur Paläste für seine Bewohner?" Diese Frage eines lesenden Arbeiters aus dem berühmten Brecht-Gedicht ist für jeden Arbeiter am Wort von Bedeutung, der sich mit der Geschichte der großen Kulturen und ihrer Protagonisten auseinandersetzt. In besonderem Maße gilt dies für Konstantinos Kavafis, den nachgeborenen Sänger des Hellenismus, der in der Diaspora lebte und schrieb und von den untergegangenen Dynastien der einstigen Weltmacht Griechenland erzählte.

Kavafis' Dichtung gilt zu einem nicht geringen Teil als Beschwörung des Vergangenen, des Alexandrinischen Zeitalters, der klassischen Zeit der attischen Demokratie, der raumgreifenden makedonischen Eroberungspolitik, des tausendjährigen Byzanz. Noch heute lebt das moderne Griechenland, wie vielleicht kein anderer Staat in Europa, von und mit dieser Vergangenheit. Und besonders die Griechen in der Diaspora halten an ihr fest.

Doch Konstantinos Kavafis, der als Beamter in Alexandria lebte (1863-1933) und in seiner freien, schöpferischen Zeit Gedichte schrieb, war kein Nostalgiker und zweifelte am Vergangenheitskult seiner Zeitgenossen. Bei ihm ähnelt Griechenland dem Bild des Riesen Antaios, der die Bodenhaftung und damit alle Kraft verloren hat. Die übermächtige Sehnsucht seiner Landsleute ist bei Kavafis gebrochen und begleitet von unerhörten Sarkasmen und beißender Ironie. Witzfiguren bevölkern seine historischen Gedichte, Décadents, Unterlegene, Gegängelte, Geknechtete, die sich gleichwohl lächerlichen Großmachtsfantasien hingeben. Man strömt zum Fest, aber es ist alles nur "leeres Theater", Talmi-Schmuck hängt an den Hälsen der "Häuptlinge" und "Kaiserchen" aus der Provinz, Mini-Imperatoren lassen sich ihr Konterfei auf Scheidemünzen schlagen. Es ist Spätzeit, "Halbmondzeit", Konstantinopel zählt lange schon zu den gefallenen Städten.

Echt und unverfälscht ist nur die Lust der (meist männlichen) Protagonisten. Bei "unanständigen Streifzügen" machen sie die Nacht zum Tag und den Jüngling zum Geliebten. Sie müssen ihre Neigung verbergen, denn was in der Antike noch gängige Praxis war, ist in der Spätantike schon sittenwidrig und in Kavafis Zeit, dem ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, verpönt und unter Strafe gestellt. Ein Gedicht erzählt vom Begräbnis des Myris, einem jungen Christen, der den Lüsten "ausgeliefert" war und sich "allzu bereit" ins Vergnügen warf, "die Männerreihen zu sprengen". Mag sein Leben auch zügellos gewesen sein, die Begräbniszeremonie ist streng und - für Außenstehende - beklemmend: "Ich stürzte aus dem schauderhaften Haus, / Floh schnell, bevor mir die Erinnerung an Myris / Geraubt und fremd geworden wäre / Durch all die Christlichkeit." Das Christentum gilt in diesem historisierenden Text - noch - als Minderheitenreligion in einer paganen Welt, und die verschiedenen Kulte - ob christlich, altägyptisch oder altgriechisch - sind sich nicht wohlgesonnen.

Konstantinos Kavafis erzählt vom Hochmut und Fall des Marc Anton und schlüpft in die Rolle eines alexandrinischen Griechen zur Zeit von Ptolemaios dem Furzer, als der wirtschaftliche und kulturelle Niedergang auch das Reich am Nil erschüttern. Seine Gedichte sind durch ihre häufig wechselnden stilistischen Register, die historisierende Rede, die mitunter schwierig-ungewohnte Prosanähe und den stets doppelten Boden der uneigentlichen Rede schwer zu übertragen. Michael Schroeder bewältigt diese Aufgabe souverän: "Wenige Zeilen nur hatte Geschichtsschreibung / Für dich vorgesehen. So war ich frei, / Dein Wesen zu gestalten nach eigener Phantasie. / Sinnlich und schön erschuf ich dich." Mit seinem Band in der "Bibliothek Suhrkamp" hat er dem deutschen Leser eine repräsentative Auswahl der historischen Gedichte zugänglich gemacht, die zwar weniger bekannt sind als Kavafis' Liebesgedichte, die Schroeder bereits 1989 in eigener Übertragung vorgelegt hat (illustriert von David Hockney), diese aber sinnvoll ergänzen. Da Suhrkamps Bibliothek moderner Klassiker auf Anmerkungen verzichtet, hat Schroeder in seinem Nachwort das Notwendige zu den einzelnen Texten gesagt. Hier kommentiert er auch - mit der präzisen Nomenklatur des Heraldikers - die Illustrationen, die dem Band beigegeben sind und die dem schnöden Blick des Dichters den Reichtum der untergegangen Welt entgegenhalten.

Titelbild

Konstantinos Kavafis: Gefärbtes Glas. Historische Gedichte. Griechisch und Deutsch. Mit Abbildungen.
Übersetzt aus dem Griechischen von Michael Schroeder.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
120 Seiten, 11,70 EUR.
ISBN-10: 3518223372

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