Odyssee nach Ithaka

Beobachtungen zur gegenwärtigen Literatur in Griechenland

Von Evangelia KaramountzouRSS-Newsfeed neuer Artikel von Evangelia Karamountzou

Wenn du deine Reise nach Ithaka antrittst,

So hoffe, dass der Weg lang sei,

Reich an Entdeckungen und Erlebnissen...

Konstantinos Kavafis (1857-1937)

Das Motto des diesjährigen Gastlandes der Frankfurter Buchmesse lädt dazu ein, Griechenland neu zu entdecken, es zum Reiseziel unserer Lektüren zu machen. Auch im Laufe ihrer jüngeren Entwicklung hat die griechische Literatur außergewöhnliche Persönlichkeiten hervorgebracht, die international Ansehen genießen. Lyrik ist unbestritten die Königin der literarischen Gattungen - auch im 20. Jahrhundert; Griechenland verzeichnet zwei Nobelpreisträger, Jorgos Seferis (1900-1971) und Odysseas Elytis (geb. 1911), die 1963 bzw. 1979 ausgezeichnet wurden. Weitere große Namen wie Angelos Sikelianos (1884-1951) und Jannis Ritsos (1909-1990), der den beiden Nobelpreisträgern gleichgestellt wird, haben neuere Tendenzen der Lyrik der Weltliteratur unmittelbar in die eigene Tradition eingebracht. Nikos Engonopoulos (1907-1985) wird der surrealistischen Dichtung zugerechnet, sein Zeitgenosse Nikos Kavvadias (1910-1975), der einst zur See gefahren ist, hat mit ganz eigenen Sujets zur lebhaften lyrischen Szene des Landes beigetragen. Zu den bekannten Lyrikern der letzten 20 Jahre gehören darüber hinaus Titos Patrikios, geboren 1928, der als nüchterner, nicht zuletzt selbstkritischer Beobachter ethischer Konfliktsituationen gilt, sowie Katerina Angelaki-Rooke, Jahrgang 1939, die in ihren Gedichten die konventionellen Deutungen mythologischer Motive und Symbole umstößt. Von allen lebenden griechischen Lyrikern steht Kiki Dimoula (geboren 1931) mit ihrem ungewöhnlichen stilistischen Ausdrucksvermögen und ihrer eigenwilligen Wortwahl der dichterischen und philosophischen Tradition des Westens am nächsten.

Eine deutsche Rezeption griechischer Lyrik ist gleichwohl weitgehend ausgeblieben. Die Ursachen dafür sind einerseits in den Übersetzungsschwierigkeiten bei griechischer Literatur generell und bei Lyrik insbesondere zu suchen. Darüber hinaus sind die Buchmärkte der Welt, der deutsche bildet hier keine Ausnahme, an neugriechischer Poesie weniger interessiert als an den Poesien der anderen Weltsprachen. Joachim Sartorius, der 1995 bei Rowohlt seinen "Atlas der neuen Poesie" vorlegte, hat beispielsweise keinen einzigen griechischen Autor in seine Anthologie aufgenommen.

Dies war nicht immer so: Hans Magnus Enzensbergers "Museum der modernen Poesie", Vorbild für Sartorius, hat die literarische Moderne Griechenlands selbstverständlich berücksichtigt. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein gehörte die neugriechische Literatur zum Bildungskanon, von der "Generation der 1880er" angefangen über den neugriechischen Naturalismus bis hin zu den unmittelbaren Gegenwartsautoren. Nikos Kazantzakis (1883-1957) wäre ein populärer Name dafür, und auch das dichterische Werk des "Alexandriners" Konstantinos Kavafis (1863-1933) fand weltweit große Verbreitung - noch heute erreicht es ein breites Publikum durch mitunter hervorragende Editionen.

Griechenland schloss sich immer den großen europäischen literarischen Strömungen an, doch ist seine Literatur vergleichsweise souverän geblieben: man besinnt sich auf die eigene Tradition, auf das Volkslied, auf das byzantinische und das antike Erbe. In Verbindung mit dem literarischen Einfluss des Westens prägt dies die Eigenart der neugriechischen Prosa. Neben der "kleinasiatischen Katastrophe" von 1922 sind die beiden Weltkriege und die Militärdiktatur (1967-1974) die wichtigsten Impulsgeber gewesen, sich mit Fragen der nationalen Identität, der Friedenssicherung und der Menschenwürde auch in der Belletristik zu befassen. Besatzungszeit und Widerstand und die demokratische Instabilität der Nachkriegsjahre führten nicht nur zu einer Polarisierung des gesellschaftlichen Lebens, sondern auch der Literatur, und während sich das übrige Europa nach dem Zweiten Weltkrieg vom Trauma der Kriege erholen konnte, machte Griechenland bis zur Mitte der 70er Jahre vergleichbare Fortschritte nur in Ansätzen. Autoren wie Alexandros Kotzias (geb. 1926), Rodis Roufos (1924-1972) und Nikos Kasdaglis (geb. 1928) wären hier zu nennen. Das Ende vom Traum einer hellenischen Großmacht und die sich daran anschließenden turbulenten Jahrzehnte neugriechischer Geschichte beeinflussten die Entwicklung der Literatur auch thematisch: Politisch und sozial engagierte Schriftsteller machten genau diese historischen Ereignisse zum Mittelpunkt ihrer Werke. Man denke an die "Akivernites polities"-Trilogie (1960-1962) von Stratis Tsirkas (1911-1980), an die Prosa von Jorgos Ioannu (1924-1984) oder an die Sozialkritik von Menis Kumantareas (geb. 1931).

Das 20. Jahrhundert war geprägt vom Exodus der kleinasiatischen Griechen in den 20er Jahren, vom Bürgerkrieg Ende der 40er Jahre, von der politischen Instabilität der 50er, der Militärjunta seit Ende der 60er Jahre und dem Aderlass durch die Arbeitsemigration ins westeuropäische Ausland, vor allem in die Bundesrepublik. Die griechische Nachkriegsliteratur hat sich diesen Entwicklungen niemals gleichgültig gegenüber verhalten, sondern durch Autoren wie Dimitris Chatzis (1913-1981) thematisiert; sie war kritisch, dynamisch und im wesentlichen aufgeklärt und hat mit unabhängiger und sich keinem Zweckdenken unterordnender Stimme ihre eigene Wahrheit verkündet.

Sie hat damit einen Kontrapunkt gesetzt zu Autoren wie dem erwähnten Nikos Kazantzakis (1883-1957), der mit seinen Romanen "Freiheit oder Tod" (1953) und vor allem "Alexis Sorbas" (1946) Aspekte der griechischen Lebensweise verklärte, so dass er als derjenige gilt, der am ehesten ein folkloristisches Bild von Griechenland geschaffen hat. Erwähnenswert sind aus und zu dieser Zeit auch die literatur- und kulturkritischen Essays mit dem besonderen Beitrag des Philosophen, Soziologen und Politikers Panajotis Kanellopoulos über die europäische Geistesgeschichte, erschienen 1961-1967.

Die Privatisierung der elektronischen Medien sowie der Sturz des Ostblocks haben das Balkanland inzwischen dem Westen näher gebracht. Aus dem Auswanderungsland der 60er Jahre wurde Griechenland in den 90er Jahren zum beliebtesten Einwanderungsland für die osteuropäischen Länder. Die orientalischen und balkanischen Einflüsse, die früher fester Bestandteil des Alltags waren, bilden mittlerweile - für die junge Generation - eine zwar starke kulturelle Orientierung, doch eben nur eine unter vielen anderen. Der Konflikt zwischen der Tradition und den modernen urbanen Lebensbedingungen der Großmetropole Athen, einer Stadt, die wie kaum eine andere in Europa die Gegensätze von Historie und Gegenwart in sich trägt, wird auch von der jungen Literaturszene zum Vorschein gebracht. Anspruchsvolle, mit einem politischen Sendungsbewusstsein begabte Autoren wie Demosthenes Kourtovik, Jahrgang 1948, schreiben über Konflikte und Beziehungen, die tief in die Sedimente der modernen Gesellschaft hineinreichen, einer Gesellschaft, die noch mit den Nach- und Nebenwirkungen ihres heftigen und grundlegenden Wandels zu kämpfen hat.

Die jüngste Autorengeneration ist in einer demokratischen, friedlichen und stabilen, aber auch sich stark wandelnden Gesellschaft aufgewachsen. Alexis Stamatis, geboren 1960, Christos Chomenidis, Jahrgang 1966, Amanda Michalopoulou, geboren 1966, Soti Triantafillou, Jahrgang 1957, sind erfolgreich und bilden eine wachsende Leserschaft. Ihre Medien sind nicht nur ihre Bücher, sondern auch Internet, Fernsehen und Radio, Lifestyle-Magazine, Fanzines und renommierte Zeitungen und Zeitschriften. Mit viel Ironie, Fantasie und Humor, weltoffener denn je in ihrer Einstellung und frei vom Glauben an politische Utopien bietet diese Nachwuchsgeneration eine bunte Vielfalt literarischer Werke. Ihre Themen unterscheiden sich stark von den 'Klassikern', geht es ihnen doch nicht mehr um die Bewältigung des Vergangenen, um Krieg, Armut und Auswanderung oder die Stellung des Individuums in der modernen Gesellschaft, Thematiken, die die unmittelbare Nachkriegszeit sowie die 68er-Generation geprägt haben. Sie sind Vertreter einer neueren, großstädtischen Schreib- und Lebensweise, die im Meer der Anonymität und inmitten der über uns hereinbrechenden Informationsgewitter versuchen, Bruchstücke abgesunkenen Menschseins zu bewahren. Sie beschränken sich in ihren Büchern nicht nur auf die moderne griechische Gesellschaft, sondern beleuchten auch die Auswirkungen, die auf das Ausland zurückgehen.

Es ist interessant, dass die Griechen in der literarischen Fantasie wie in der Realität wieder unterwegs sind, in Berlin ebenso wie in Barcelona und Kopenhagen; die Autoren reisen, und ihre Stoffe betreffen sowohl das Fernweh wie auch die Sehnsucht nach Heimat und Rückkehr. Die griechische Beteiligung an der Internationalen Frankfurter Buchmesse trägt den Titel "Neue Wege nach Ithaka", schlägt also Alternativen vor, die nicht nur in das ideale Griechenland der deutschen Romantiker führen sollen, sondern auch in ein modernes Land, das seine Gegenwart und Zukunft selbstbewusst aufbaut.

Der wachsenden Nachfrage nach Büchern entsprechen in den letzten Jahren deutlich zunehmende Ausgaben für Konsum und Bildung. Die Zahl der jungen Leser ist größer geworden, das Bildungsniveau höher. Kontrollierte Buchpreisentwicklung und eine effiziente Werbestrategie des Buchhandels haben den Bücherverkauf wesentlich gefördert. Zahlreiche vielversprechende Werke der Prosa wie der Lyrik sind Verkaufsschlager geworden und erscheinen in Literaturempfehlungen zwischen den Werbeblöcken der großen TV-Sender. Immer mehr Bücher werden für Film oder Fernsehen adaptiert, ein Phänomen der letzten fünfzehn Jahre mit steigender Tendenz. Durch den Einsatz neuer Vertriebskanäle und die Einrichtung moderner Buchhandelsketten erfuhr der Markt einen weiteren Expansionsschub. Einer Studie zufolge, die das National Book Centre of Greece (NBC) vor zwei Jahren zum griechischen Verlagswesen durchführte, sind zwei Drittel aller Bücher, die in Hellas produziert werden, Übersetzungen: 57 Prozent aus dem Englischen, 17 Prozent aus dem Französischen und vier Prozent aus dem Deutschen. Griechische Exporte belaufen sich dagegen lediglich auf ein Viertel des Imports: mehr oder weniger steht Griechisch einsam und exotisch in der europäischen Sprachlandschaft, und es mangelt nicht zuletzt an guten Übersetzern. Das Interesse der europäischen Verleger und die Gunst der Leser ist schwer zu erobern, solange der Mythos herrscht, dass Griechisch immer noch eine schwierige Sprache sei, über die Maßen schwierig, über die Maßen schwer zu erlernen, über die Maßen schwer auszusprechen. Dem europäischen Leser bleibt es überlassen, wie ein moderner Herkules die Kraft aufzubringen und wie ein neuer Odysseus die aktuellen Wege nach Ithaka durch die neugriechische Literatur zu entdecken.