Begriffe und Gegenstände der Psychoanalyse

Wolfgang Martens und Bruno Waldvogel legen mit einem professionellen Handbuch Angebote an andere Disziplinen vor

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wolfgang Mertens' psychoanalytische Handbücher und die Verlage, in denen sie erscheinen, machen sich gegenseitig kräftig Konkurrenz. Nach dem Kompendium "Psychoanalytische Grundbegriffe" (Psychologie Verlagsunion) und den "Schlüsselbegriffen der Psychoanalyse" (Klett-Cotta) liegt inzwischen im Kohlhammer Verlag sein zusammen mit Bruno Waldvogel herausgegebenenes "Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe" vor. Es ist das teuerste, aber auch ambitionierteste dieser Art und kann bereits ein Jahr nach seinem Erscheinen zu als Standardwerk gegenwärtigen psychoanalytischen Wissens gelten, das professionellen Ansprüchen genügt.

Gerade auch jenen Benutzern aus anderen kulturwissenschaftlichen Disziplinen, die in ihrem Interesse an Psychoanalyse meist noch gänzlich auf die Schriften der Klassiker von Freud bis Lacan fixiert blieben und dabei in dem verdienstvollen "Vokabular der Psychoanalyse" von Laplanche/Pontalis einschlägige Unterstützung fanden, macht es klar, dass die Psychoanalyse nach hundert Jahren "Traumdeutung" längst nicht mehr ist, was sie mal war. Das Handbuch referiert zwar auch das "klassische" Verständnis einschlägiger Begriffe, doch schon die einleitenden Definitionen tragen dem neueren oder neuesten Stand der Begriffsverwendungen und der mit ihnen verbundenen Konzepte Rechnung. Jeder der knapp zweihundert Artikel, in denen viele weiterere, durch ein Sach- und Personenregister gut erschlossene Begriffe expliziert werden, folgt einer vorgegebenen Systematik des Aufbaus. Sie hielt das internationale Autorenteam von 130 Wissenschaftlern jeweils dazu an, Auskünfte zu geben zum "Ideengeschichtlichen Hintergund" eines Begriffs, über "Wesentliche Erweiterungen, Differenzierungen und Modifikationen" und zu einem Ausblick auf "Interdisziplinäre Beiträge und Befunde".

Vielleicht ist dies für viele eine der erfreulichsten Seiten des Handbuchs: das Bemühen eines jeden Artikels, Schnittstellen zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen wenigstens zu skizzieren. Ausdrücklich bedauern die Herausgeber die zu beobachtenden Rückzugstendenzen der Psychoanalyse aus dem interdisziplinären Diskurs. Sie haben in den nach wie vor praktizierten Ausgrenzungen der Psychoanalyse in verwandten Disziplinen ihr Pendant. Durch grenzüberschreitende Blicke auf Neurophysiologie oder Evolutionsbiologie, Kognitionspsychologie, Klinische Psychologie oder auch Soziologie und Ästhetik macht das Handbuch immer wieder Angebote zur Kooperation. In seiner Substanz ist es gleichzeitig dazu geeignet, Vertretern anderer Disziplinen Grundlagen zu verschaffen, sich ihrerseits der Psychoanalyse anzunähern.

Dazu tragen nicht zuletzt die zahlreichen Artikel unter Stichwörtern bei, die eigentlich nicht zu den "Grundbegriffen" der Psychoanalyse zu zählen sind, sondern bevorzugte Interessengegenstände der Psychoanalyse benennen: "Religion", "Mythos" oder "Kunst" etwa, aber auch "Emotion" und "Einfühlung", "Familie", "Geschlechterdifferenz", "Gruppe", "Macht" oder "Masse". Bei solchen Gegenständen sollten sich die Möglichkeiten zur Kooperation zwischen diversen Fächern eigentlich von selbst ergeben. Begriffliche, methodische und perspektivische Barrieren stehen dem entgegen. Das Handbuch ist ein Beitrag, sie zu überwinden. Oder noch einfacher: Es hilft dem gegenseitigen Verstehen. Und das ohne Preisgabe der eigenen Identität.

Titelbild

Wolfgang Mertens / Bruno Waldvogel (Hg.): Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe.
Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2000.
856 Seiten, 74,90 EUR.
ISBN-10: 3170149946

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