Der alte Schwung ist hin

Uwe Timm beschäftigt sich in "Rot" einmal wieder mit der 68er-Generation

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Lauf der letzten Jahre ist 1968 zu einer mächtigen Projektionsfläche geworden: Legenden wurden gestrickt, Feindbilder neu gezeichnet, Differenzen eingeebnet und Lebensläufe diskutiert. Die Debatte um Joschka Fischers Sponti-Vergangenheit war ein leicht hysterischer Höhepunkt, eine Mischung aus Bigotterie, Heuchelei und Geschichtsklitterung. Eine ganze Generation, die ihre eigenen Ideale längst hinter sich gelassen hat, wurde plötzlich aufgefordert, über sich selbst nachzudenken. "Selbstreflexion" und "Kritikfähigkeit" - zwei Stichworte, die den 68ern nicht ganz unbekannt sein dürften, schlugen auf einmal zurück. Das Niveau der Debatte allerdings ließ ahnen, dass aus einer tatsächlichen "Aufarbeitung" nichts werden würde. Wer so weit von der einstmals für möglich gehaltenen Revolution entfernt ist wie die Kinder von Marx und Coca Cola, die heute die Macht im Staate übernommen haben, möchte nicht gerne über seine auf der Strecke gebliebene Radikalität nachdenken: Phantomschmerz.

An eine literarische Aufarbeitung dieses Phantomschmerzes hat sich nun ein Protagonist jener Zeit gemacht, und das nicht zum ersten Mal. Uwe Timm legt einen Roman vor, der mit erzählerischen Mitteln in den Bewusstseinshaushalt der 68er eindringt. Thomas Linde heißt sein Held, ein ehemaliger "Rädelsführer" der Studentenbewegung, der sich nun als Beerdigungsredner und Jazzkritiker durch ein bildungsbürgerliches Leben bewegt. Seine Ideale sind ihm nicht gänzlich abhanden gekommen; eine große Rolle spielen sie allerdings auch nicht mehr für ihn. Er ist zum Pragmatiker geworden, gerade noch ein paar Schritte vom Zyniker entfernt. Die Utopien sind tot. Der wilde Aufbruch hat sich längst in eine zaudernde Melancholie verwandelt. Die Vergänglichkeit wird plötzlich konkret. Der alte Schwung ist hin, wie Werner Enke hochreflexiv und in weiser Voraussicht schon Ende der 60er erkannt hat.

Aber noch einmal kommt alles zurück: Linde erhält den Auftrag, eine Grabrede auf einen gewissen Lüders zu halten, der sich rasch als der frühere Kampfgenosse Aschenberger entpuppt, einer, der seinen linken Grundsätzen nie abgeschworen hat. In Aschenberger kristallisiert sich das verloren Gegangene - ein kompromissloser Idealismus, der auch vor terroristischen Anschlägen nicht Halt macht. Linde entdeckt bei den Recherchen für seine Rede auf Aschenberger nicht nur eine Unzahl von Karteikarten, beschrieben mit aphoristischen Theoriebruchstücken in adornitischer Diktion, die seltsam unzeitgemäß und wahr klingen; er findet zudem Sprengstoff und Notizen, die darauf schließen lassen, dass Aschenberger die symbolisch hoch aufgeladene Siegessäule in die Luft sprengen wollte.

Thomas Linde sieht sich plötzlich eingeholt: Auf der einen Seite frisch verliebt in eine 21 Jahre jüngere Frau, die in ihm nicht zuletzt ein interessantes Fossil einer untergegangenen Zeit entdeckt. Auf der anderen Seite der Sprengstoff, den er fortan mit sich schleppt - eine Verpflichtung gegenüber einer verratenen Vergangenheit. Hatte sich Aschenberger Thomas Linde nicht nur als Totenredner, sondern auch als ausführendes Werkzeug seiner Pläne gewünscht?

Uwe Timm lässt in einem traditionell und souverän erzählten Roman ein Panorama der jüngsten deutschen Geschichte entstehen: die Risse, die durch die Linke gehen, das Unerledigte, das die Generation explosiv mit sich herumträgt, der Drang nach einem richtigen Leben im falschen. Längst etabliert bleibt für die Fiftysomethings, die sich nur schwer ihr Altsein eingestehen, allein die Erinnerung an den Traum von einer anderen Welt. Eine bessere haben sich die meisten 68er längst geschaffen: Der Toscana-Freund und Weinkenner taucht hier als klischeehafte Figur nämlich ebenso auf wie eben der unverbesserliche und darob gescheiterte Weltverbesserer. Das ist alles ein bisschen so, wie man es sich vorstellt. Uwe Timm zeigt zwar die Brüche in den Biografien, aber die kennen wir zur Genüge. Auch die Menschen, durch die sich diese Widersprüche im Lauf der Zeit gefressen haben, geistern ja tagtäglich und recht erfolgreich durch die Medienlandschaft. Bei Timm sind sie oft nicht mehr als Abziehbilder.

Die Farbe Rot ist eines von diversen Leitmotiven des Romans. Linde schreibt an einem Buch über die Farbe der Revolution und des Eros, und er wird schließlich auch ihr Opfer: Als er bei Rot eine Kreuzung überquert, so erfahren wir gleich auf der ersten Seite, erfasst ihn ein Auto. Was wir lesen - über seine Geschichte und die seiner Generation - spielt sich in einem Wimpernschlag zwischen Leben und Tod ab. Das Buch ist eine große Totenrede, die letzte, die Linde hält. Ein Resümee. Ein bitteres. Besser als die Talkshow-Erklärungsversuche von Berufs-68ern allemal; aber doch hinterlässt es einen schalen Geschmack: nichts explodiert, nichts überrascht hier, nicht viel wird gewagt. Der alte Schwung ist eben hin.

Titelbild

Uwe Timm: Rot. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001.
432 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-10: 346203023X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch