Grüne Hölle

Über Sabine Scholls Roman "Die geheimen Aufzeichnungen Marinas"

Von Annika RauschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Annika Rausch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich versuche reine Schrift zu entziffern, die die Zeichnungen auf dem Codex Mendoza begleitet. Ich zoome ein rotbraunes Kriegerkostüm, samt spitzer Haube und einen mit geometrischen Formen und Federn geschmückten Schild heran. Die alten Schriftzeichen sind verschlungen, ich klicke darauf, und der spanische Text erscheint: in Times. Ich öffne das Fenster Übersetzung und vor meinem Auge auf dem Bildschirm schreibt eine unbekannte Hand die Zeichen, als würden sie das erste Mal entstehen: Kriegerkostüm mit Streifen, Goldschnallen, Goldschild und Goldene Nasenplatte, 200 Peseten wert. Tribut der Provinz Chalco. Ich klicke mich zur nächsten Seite. Lienzo de Tlaxcala. Über Malinches Kopf schwebt ein hölzerner Stuhl, besetzt von Cortéz, eine lange Feder am Hut." Der Beginn der "geheimen Aufzeichnungen Marinas" katapultiert den Leser mitten in ihre Geschichte. Die Ich-Erzählerin "schlüpft über die Welt-Magie" - das Internet -in die Welt Marinas, eigentlich Malinche, die einzige Frau, die bei der Eroberung Mittel- und Südamerikas eine ausschlaggebende Rolle gespielt hat: als Übersetzerin hatte sie zwischen Montezuma und dem Konquistador vermittelt. Noch heute wird in Mexiko "Malinche" nur im negativen Sinn benutzt, als der Name einer Person, die ihr Land betrügt - einer Landesverräterin. Doch ihre Aufzeichnungen fügen sich durch die Hand bzw. die Maus der Erzählerin nach und nach zusammen und erzählen ein Bild der vielleicht echten Marina auf der Suche nach sich selbst. Aber es sind nicht nur die eigenen Berichte, die langsam zu einem Ganzen wachsen. "Durch einen Umweg, einen Fehler oder ich weiß nicht mehr, welche Verbindung, fand ich dann die Geheimen Aufzeichnungen Marinas, und über dieses Dokument drang ich in die Geschichten Sepps, Lilians und Lenis." So fügen sich die Lebensbilder eines abenteuerlustigen Mitteleuropäers, der Witwe eines Dokumentarfilmers und der Besitzerin eines Hotels sowie eines schwarzen Dienstmädchens zusammen und werden fortgeführt. Am Ende ergeben die "Textfiles" der Erzählerin eine große "Datei". Die Leerstellen der Erzählung können vom Leser leicht ausgefüllt werden. "Ich spüre Knoten auf, lockere, löse, versuche Untrennbares auseinanderzubringen, Unvereinbares zu nähern, und die im Netz entdeckten Vorlagen bilden ein Gewebe; je mehr ich daran hänge, mich hineinbringe, -zwänge, um so mehr könnte es sein, daß Marinas Geschichte entsteht als meine. Weil ich will." Dieser Ausspruch der "Userin" kommt der Leserhaltung und dem Leserverhalten sehr nahe. Stück für Stück wird man hineingezogen in den Urwald botanischer und menschlicher Art. Sabine Scholl, die seit 1996 in Chicago lebt und dort Literatur lehrt, ist kein Neuling auf literarischem Gebiet. 1992 erhielt sie für ihre Erzählungen "Fette Rosen" den Rauriser Literaturpreis für die beste deutschsprachige Erstveröffentlichung. Ein Jahr später folgte "Haut an Haut", 1999 dann "Die Welt im Ausland".

"Vom Papier weggehen" und "nach neuen Medien suchen" - diese Punkte sind Sabine Scholl wichtig. Sie legt Wert auf die Präsenz im Internet. Auf ihrer eigenen Homepage hat sie Leseproben und Pressestimmen zusammengestellt - eine Seite zum Schmökern. Sie möchte anderen die Möglichkeit bieten, ihre Texte kennen zu lernen und vielleicht Neugierde für ihre gedruckten Werke zu entfachen.

Titelbild

Sabine Scholl: Die geheimen Aufzeichnungen Marinas. Roman.
Berlin Verlag, Berlin 2000.
280 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3827003482

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