Kinder hören alles

Jekaterina Sadur über eine Welt, in der Engel nur noch flüstern

Von Volker Maria NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Maria Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine neue Stimme der russischen Literatur beschenkt uns mit ihrer überraschend ausgereiften Erzählkunst. Die junge Autorin Jekaterina Sadur aus Nowosibirsk erntete den Preis der Literaturzeitschrift "Znamja" für das beste Debüt des Jahres. Erzählt wird aus Sicht eines vierjährigen Mädchens. Die kleine Ljolja lebt bei ihren Zieheltern in einem St. Petersburger Vorort. Wachsam verfolgt sie die Geschehnisse in der muffigen Wohnung und auf dem verlotterten Spielplatz sowie das unterschwellige, tiefe Zerwürfnis zwischen Tante Gruscha und Onkel Kirscha. Die ihr unverständlichen Spannungen überträgt sie in eine kindliche Phantasiewelt, in der Manschettenknöpfe reden, Stehkragenmäntel Bus fahren können und sich altersschwache Häuser aneinander lehnen und Mut zusprechen im Kampf gegen russische Winde. Ljolja, ungewöhnlich aufmerksam und wißbegierig, geht den Dingen in der Art eines Kindes auf den Grund.

Das Buch wird die Bedenken, die sein schwebender Titel wecken könnte, sehr rasch zerstreuen. Es ist weit mehr als seicht und irgendwie ahnungsvoll - es ist überzeugend seicht und ahnungsvoll. Jekaterina Sadur verzichtet durchweg auf die zu befürchtenden altklugen Ungereimtheiten einer Gossengöre und bietet stattdessen einen Blick auf die Schönheit der Traurigkeit hinter einer naiven Phantasiewelt, die ihrerselbst nicht bewußt sein kann. So bleibt es dem Leser überlassen, hindurchzuschauen auf eine marode Gesellschaft und den Schmutz der Erwachsenenwelt. Ljolja, die kleine Ljoljetschka, kennt die Kniffe und Harken der Verlogenheit nicht. So sagt sie beispielsweise am Sterbebett ihrer geliebten Tante Gruscha zu ihrer Mutter: "Mama, könntest Du nicht statt Tante Gruscha sterben?" Die Mutter ist - in strenger Kindperspektive - was Ljolja an ihr sieht: die grünen Hausschühchen. Sie tippeln nervös, stolpern fast und schlurfen hinaus.

Dieser Art sind die Höhepunkte eines stimmungsgebundenen Romans, der mit seinem durchgehaltenen Erzählton überzeugt. Woher hat die junge Autorin diese Reife? An den schönsten - den traurigsten - Stellen des Romans, vermeint man die Tränen dieser klugen Frau im Papier zu ertasten. Man möchte ihr zuflüstern: Und bleiben die Engel auch aus, Frau Sadur, solange noch Bücher wie Ihres geschrieben werden, machen wir es noch ein Weilchen - auch ohne die Engel.

Titelbild

Jekaterina Sadur: Das Flüstern der Engel. Aus dem Russischen von Hannelore Umbreit.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
195 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3518410512

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