Maßlos und kunstvoll

Nachruf Thomas Brasch

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Weit über zehntausend Seiten soll das Manuskript des "Mädchenmörders Brunke" zuletzt umfasst haben. Nur ein Bruchteil davon, knapp hundert Seiten, waren vor zwei Jahren veröffentlicht worden. Eine unglaubliche Verdichtung, eindrucksvoll und mysteriös, maßlos und kunstvoll: In Thomas Braschs letzter Erzählung wird das Auseinanderdriften verquickter Lebensentwürfe mit schmerzender Präzision beschrieben; "Mädchenmörder Brunke" ist ein Baustein zum Fragment einer Sprache der abwesenden Liebe. Ein ganzes Jahrhundert wird darin verklammert: das "Vergehen der Liebe" als Verschwinden, Verfehlung und Verbrechen. Braschs letztes großes Werk um eine Lustmaschine ist Schöpfungsbericht und Passionsgeschichte zugleich. Erkennt der Mensch, dass es keine Liebesmaschine gibt, "außer man selbst ist eine", wird die Produktion eingestellt und die Identität aufgelöst. Er wird sich "nur noch so wenig Gewicht beimessen, dass ein Bindfaden ausreichen wird, mich vom Ausrufezeichen, das Brunke war, zum Fragezeichen, das ich in diesem Fall immer bleiben müsste, in den Tod zu krümmen", heißt es da dunkel. Ein Rätsel durchzieht dieses Prosawerk.

Thomas Brasch, am 19. Februar 1945 als Sohn jüdischer Emigranten im englischen Westow/Yorkshire geboren, hätte es sich leicht machen können. Die Familie zog es 1947 in die damalige SBZ, der Vater machte in der SED Karriere und wurde schließlich stellvertretender Kulturminister der DDR. Seinem Sohn hatte er es zu verdanken, dass er diese Position 1968 verlor. Statt sich ins Bonzenleben zu fügen, wählte Thomas nämlich einen anderen Weg: "Verunglimpfung führender Persönlichkeiten" und "staatliche Hetze" wurden ihm zur Last gelegt; das Journalistikstudium und das Studium an der Hochschule für Film und Fernsehen konnte er sich so abschminken. Zwei Jahre und drei Monate Zuchthaus brachte ihm der Protest gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei ein. 1971 wurde er von Helene Weigel, die seine Lebensgefährtin Katharina Thalbach förderte, ans Brecht-Archiv geholt. Braschs erste Prosatexte fanden wegen "grober Verzerrung der DDR-Arbeitswelt" keinen Verlag. Er unterzeichnete das Protestschreiben gegen die Ausweisung Wolf Biermanns und kehrte der DDR bald selbst den Rücken. 1977 kam er im Westen an und wurde mit offenen Armen empfangen: Er reüssierte mit dem Prosaband "Vor den Vätern sterben die Söhne" (1977), schrieb Gedichte, etablierte sich als Bühnenautor ("Rotter"), drehte Filme ("Engel aus Eisen").

Brasch war zu dieser Zeit ein Star am deutschen Literaturbetriebshimmel: Schon allein seine Vita, sein Außenseitertum, seine Übersiedlung in die Bundesrepublik trugen dazu bei. Seine Texte und Theaterarbeiten funktionierten im Westen. Sie erzählten von einem anderen Alltag, der etwas mit einer Realität zu tun hatte, von der sogar die Kulturszene ahnte, dass es sie anderswo tatsächlich gab: jenseits der Mauer, aber nicht nur dort. Brasch gelang die Formulierung von etwas sehr Zeitgenössischem: Existenzielles, Düsternis, Opportunismus spielten in seinen Texten eine Rolle; Gewalt und Krieg hatten sich darin eingenistet als Reflex auf die Schrecken des 20. Jahrhunderts. Und gleichzeitig war da das Gefühl eines anarchistischen Aufbruchs, der auch die Hedonisten und Popisten nicht auf der Strecke ließ. Aber irgendwann, spätestens als die Berliner Mauer zusammengebrochen war, waren Brüche nicht mehr gefragt - weder biografische noch literarische. Die Gesellschaft gab Gas und wollte Spaß. Thomas Brasch zog sich immer mehr zurück. Shakespeare-Nachdichtungen legte er in den 90er Jahren noch vor. Gerüchte über Alkoholismus und Drogenkonsum kursierten, genialisch arbeitete er weiter, verschwand aber aus der Öffentlichkeit - und aus deren Bewusstsein. Sein "Mädchenmörder Brunke" sollte ihn noch einmal aus der beginnenden Vergessenheit reißen. Als Fragezeichen sitzt der tote Held am Ende dieses fantastischen Romans in einer merkwürdigen, mechanischen Konstruktion - und steht zugleich als solches hinter seiner Hinterlassenschaft, dem Text, der an Stelle der unvollendeten Liebesmaschine das Vermächtnis bildet und vordergründig ein Scheitern dokumentiert. Jedoch, die Literatur verhandelt das Scheitern nur; sie kann dennoch triumphieren. Aber sie immunisiert nicht gegen das Leben. Nur wenige Wochen nach dem Tod seines ebenfalls schreibenden Bruders Peter ist Thomas Brasch am 3. November in Berlin an Herzversagen gestorben.