Wissensarchiv und Wissensbegehren

Michel Foucaults Archäologie des kulturellen Unbewußten

Von Werner SohnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Werner Sohn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An Michel Foucault scheiden sich die Geister. Seine Arbeiten werden nicht allein kontrovers diskutiert, sondern zudem so unterschiedlich interpretiert, daß man meinen könnte, die Interpreten hätten verschiedene Texte gelesen. Die Mannigfaltigkeit der Deutungen ist nicht erstaunlich, wenn bedacht wird, daß Foucault entgegen weitverbreiteten wissenschaftlichen Gepflogenheiten keine Leseanweisungen und Verstehensvorschriften mitgeliefert hat, welche seine Bücher gegen die unterschiedlichsten Auslegungen sichern würden. Diese Offenheit wird bisweilen als Einladung mißverstanden, Foucaults Arbeiten eingeschränkt auf die eigene Perspektive und Rationalitätskonzeption zu lesen. In dieser Leseweise gilt das Unbekannte als erkannt, wenn es auf das Altbekannte zurückgeführt ist. Wer den Gedanken nicht zulassen will, daß für Foucault gerade die Verabschiedung der Idee des autonomen Subjekts sowie der Destruktion von universellen Wahrheitsansprüchen die Möglichkeit einer freieren und selbstbestimmteren Entfaltung der Menschen eröffnen könnte, gerät leicht vom geraden wissenschaftlichen Weg der reiner Wahrheits- und Emanzipationsansprüche auf die schiefe Bahn strategischer Kampfmaßnahmen.

Hans Ulrich Wehler etwa, ein prominenter Vertreter der historischen Sozialforschung, hat unlängst "das komplexe, aber auch diffuse Denken Foucaults", am eigenen Maßstab von Wissenschaftlichkeit gemessen und es einer "straffen systematischen Gliederung und analytischen Zerlegung" unterworfen. Im eingerichteten Argumentationsfeld liegt der Wahrheitsanspruch bei Wehler. Die Idee des handlungsbestimmenden Subjekts wird gegen Kritik immunisiert, indem sich Wehler nicht mit Foucaults Analyse auseinandersetzt, der zufolge in der Moderne spezifische Disziplinartechniken gelehrige, fügsame und produktive Subjekte hervorbringen, sondern es Foucaults Analyseansatz anlastet, das Individuum zu verstoßen und zu entmündigen. Die engagierte und gutgemeinte Verteidigung des emanzipatorischen Anspruchs der Aufklärung und der systematisch sachlichen Wissenschaftlichkeit führt Wehler bisweilen als argumentativen Frontalangriff; beispielsweise wenn Foucault als "ein intellektuell unredlicher, empirisch absolut unzuverlässiger, kryptonormativistischer 'Rattenfänger' für die Postmoderne" charakterisiert wird. Überraschend dann die folgende Einschätzung, in welcher Wehler Foucault bescheinigt, er könne den Blick für Probleme schärfen, die andere Wissenschaften übersehen. Doch wer sich auf Foucault einlasse, so Wehler, müsse gewisse Vorsichtsmaßnahmen treffen und zudem ein ungewöhnliches Maß an Spannungen aushalten können. Nur "wer sich das im eigenen Forschungsprozeß auch auf längere Sicht, bei einem völlig ungewissen Ausgang, zutraut, kann sich freiwillig in diese Gefahrenzone begeben".

Hannelore Bublitz hat sich auf Foucault in dem von ihm gewünschten Sinne eingelassen, seine Bücher als "Werkzeugkisten" situiert und Elemente des Analyseansatzes für die eigene soziologische Fragestellung verwendet. Zwei ineinander verwobene Motive durchziehen das Buch in unterschiedlichen Variationen: Zum einen die Analyse der Subjektbildung in der Moderne; zum anderen die Regeln und Regelhaftigkeiten, welche Wissen, Kultur und Gesellschaft untergründig eingeschrieben sind und als Archiv bezeichnet werden. Als Archäologie bezeichnet Bublitz die Theorie des Archivs, sie faßt unter diese sowohl die Methode der diskursanalytischen Rekonstruktion des Archivs einer Gesellschaft als auch die Analyse der Herkunft gegenwärtigen Wissens aus historisch formierten Machtpraktiken.

Bublitz' Anliegen ist es, den Foucaultschen Diskurs aufzunehmen, ihn in soziologischer Perspektive zu verschieben und ihn für die Bildung von Gesellschaftstheorie und Gesellschaftsanalyse weiterzuentwickeln und zu modifizieren. Zu Beginn des Unternehmens werden die epistemologischen Prämissen der soziologischen Theoriebildung reflektiert. Bublitz legt unter Einbeziehung von Bourdieu, Foucault und Luhmann dar, daß die Gesellschaftstheorie selbst Bestandteil der Gesellschaft ist, welche es zu erfassen gilt. Auf dem Standpunkt einer soziologisch informierten erkenntnistheoretischen Reflexion kennzeichnet Bublitz die Vorstellung eines vom Erkenntnisobjekts unabhängigen Erkenntnissubjekt als Illusion. In der konstruktivistischen Perspektive ist Gesellschaftstheorie selbst Teil der Gesellschaft, welche es zu analysieren gilt, und die Analyse kann nicht anders als mit den historisch und gesellschaftlich bereitgestellten Vorrat an Begriffen und Konzepten bewerkstelligt werden. Bereits in Bezug auf das Erkenntnisproblem stellt Bublitz die Frage nach dem Subjekt. Aus der Ansicht, daß auch das Erkenntnissubjekt der Soziologie kein autonomes, sondern ein durch die Gesellschaft konstituiertes Subjekt ist, folgt allerdings weder ein erkenntnistheoretischer Agnostizismus noch ein Fatalismus in Gestalt der Vorstellung eines gesellschaftlich völlig determinierten Subjekts. Vielmehr eröffnet die Einsicht in die gesellschaftliche Bedingtheit von Erkenntnis und Subjekt die Möglichkeit, eben diese zu reflektieren und als gestaltbar zu begreifen. Wenn Bublitz schreibt, "Gesellschaft kann nur im Rahmen der diskursiven und sozialen Denkräume, in dem sich gesellschaftliche Wirklichkeit konstituiert, gedacht werden", so betont sie die unentrinnbare Verwobenheit von Soziologie und Sozialem sowie von Gesellschaftstheorie und Gesellschaft. In dieser Perspektive ist die Soziologie durch keine Methode, welche den gesicherten Weg der Erkenntnis weist gesichert und versichert. Statt dessen stellt sich ein nicht hintergehbarer Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen und soziologischen Konstruktionen. Mit Luhmann, den Bublitz zitiert, meint diese, "daß die Konstruktionen der Soziologie ihre eigene Dekonstruierbarkeit mitreflektieren müssen".

Im Mittelpunkt des Buches stehen nach Bublitz eher Fragestellungen und Aufmerksamkeitsverschiebungen als fertige Antworten. Es handle sich "um einen Kommentar zum Foucaultschen Diskurs, der eine bestimmte Lesart und darin den Entwurf einer Gesellschaftsanalyse vorschlägt". Gerade in Hinsicht auf die skizzierten Erkenntnisprobleme biete Foucault einen Lösungsansatz, wenn Gesellschaftsanalyse als Diskurs über Diskurse verstanden würde. Foucault rege dazu an, sich von der Vorstellung zu verabschieden, daß soziale Wirklichkeit ein auf der vorgegebenen Ordnung beschreibbarer und analysierbarer soziologischer Gegenstand sei. Seine Analysen hätten aufgezeigt, daß "die 'empirischen Erscheinungsformen' gesellschaftlicher Wirklichkeit" Effekte von epistemologischen Strukturen und diskursiven Praktiken seien. Diese Perspektivität führe zu einer Problematisierung der historisch formierten Konstruktionsbedingungen von Diskursen, welche das Wissen hervorbringen, in dem sich die Menschen subjektiveren und mit dem die Soziologen die Gesellschaft analysieren.

Im Unterschied zu vielen Foucaultrezipienten, welche sich auf den "frühen", den "mittleren" oder den "späten" Foucault beschränken, hat Bublitz sich zum Ziel gesetzt, die unterschiedlichen Analyseebenen bei Foucault zusammenzubringen; also, um hier nur die markanten Stationen von Foucaults Untersuchungen zu nennen: Die Ordnung der Dinge, Die Archäologie des Wissens, Die Ordnung des Diskurses, Überwachen und Strafen sowie Sexualität und Wahrheit. Hierdurch wird eine differentielle Perspektivität von Analyseansatz und zu analysierendem Gegenstandsbereich eröffnet: Archäologie/ (Wissens-) Archiv, Diskursanalyse/ diskursive Praktiken-Macht-Wissen sowie Disziplinartechnologien-Sicherheitstechnologien/ Normalisierungsgesellschaft-Subjektivierung. Mittels dieser Bündelung entwirft Bublitz einen weiten Horizont für die soziologisch relevante Problematisierung und Analyse von Gesellschaft.

Entlang der Auseinandersetzung mit Bourdieu zeigt Bublitz auf, daß die genuin soziologische Untersuchung des Handelns sozialer Akteure und deren soziale Verortung nicht konträr steht zur Analyse der untergründigen diskursiven Regeln und epistemologischen Strukturen, sondern in einem Ergänzungsverhältnis. Gegen Bourdieus Ansicht, Foucault habe die Gegensätze und Antagonismen zwischen diskursiv unterschiedlich positionierten Individuen in den "Ideenhimmel" verlagert, wendet Bublitz ein, daß sich bei Foucault die Diskurse durchaus in einem gesellschaftlichen Beziehungsgeflecht bewegten. Allerdings sei zu berücksichtigen, daß der soziale als epistemologischer Raum konzipiert sei, wodurch die Regeln, welche die Diskurse strukturieren und das Handeln der Akteure bestimmen, analysiert werden könnten. "Bourdieu verlagert hingegen", so Bublitz, "seine Analyse auf die Ebene des sozialen Raums und analysiert die Wirkungen von Diskursen immer schon auf der Ebene des Handelns der sozialen Akteure und ordnet Diskurse einem relationalen Beziehungsgeflecht sozialer Positionen und Felder zu, in denen sich symbolische und soziale Kämpfe artikulieren".

Gleichwohl hat Bourdieu einen vorbewußten, jeder Wahl zuvorkommenden gesellschaftlichen Handlungsrahmen diagnostiziert, welcher seine Selbstverständlichkeit und Legitimität dem Umstand verdanke, daß mögliche Alternativen, um welche geschichtlich gekämpft wurde, ins Unbewußte verdrängt worden seien. In Bourdieus Sichtweise ergibt sich die Legitimität der bestehenden staatlichen Ordnung wie etwa das Gewalt- und Rechtsmonopol, aber auch z. B. die ärztliche Autorität dadurch, daß die soziale Welt mit Aufforderungen durchsetzt ist, die politisch konstruierte Verhältnisse als selbstverständliche und jeder Wahl vorausgehende Matrix des Handelns zu situieren.

Foucault wie Bourdieu verweisen, wenn auch in unterschiedlichen Perspektiven, auf die den Individuen einverleibten sozialen bzw. epistemologischen Normen und Regeln, welche gesellschaftlich als selbstverständlich bzw. als natürlich situiert sind. Beiden geht es zudem darum, das als selbstverständlich Konstituierte bloßzulegen und Wahlmöglichkeiten zu erschließen. In der Archäologie des Wissens führt Foucault das Archiv in folgender Charakterisierung ein: "Das Archiv ist zunächst das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht". Bublitz begreift nun das Archiv als "die unbewußte Struktur einer Kultur(epoche)" und die Archäologie als denjenigen Analyseansatz, der "den Zugang zu diesem kulturellen Unbewußten" eröffnet. In der metaphorischen Rede vom 'Unbewußten einer Kultur oder Gesellschaft', welches "dem Denken und Handeln als historisch Unbewußtes zugrunde liegt", bewegt sich Bublitz in enger Nachbarschaft zu Bourdieu, obgleich sie es im Unterschied zu diesem in historischen Macht-Wissens-Strukturen ansiedelt. Dieses "Unbewußte der Kultur" weist Bublitz als historisch konstituierte diskursive Denkschemata aus, welche "erfahrungs- und handlungskonstitutiv" seien, ohne daß sie "auf ein subjektives (Un)bewußtes zurückgeführt werden" könnten. En passant vermerkt Bublitz noch, daß die Analogie zum Bourdieuschen Habitusbegriff auf der Hand liege.

Indem Bublitz Bourdieu aufgreift und mit Foucault verknüpft, gelingt es ihr zum einen, die Frage nach dem Subjekt sowohl auf der Ebene des Wissens innerhalb der diskursiven Regelhaftigkeiten zu stellen, und zum anderen diese gleichzeitig im Feld der geordneten sozialen Welt zu analysieren. Die Verbindung erweist sich bei Bublitz als sehr ergiebig, insofern sie die fundierende Rolle, welche dem autonomen und sinnstiftenden Subjekt der Moderne sowohl hinsichtlich seiner Konstitutionsbedingungen als auch in Bezug auf die soziale Welt zukommt, analysieren kann. 'Wahrheit' erweist sich hier nicht als Vermögen eines transzendental konzipierten Subjekts, sondern als Effekt spezifischer Diskurse; die Stifterfunktion des Subjekts wird dekonstruiert, indem eben die Konstitutionsbedingungen desselbigen in einer spezifischen gesellschaftlichen Praxis gedacht und untersucht werden.

In der archäologischen Untersuchung werden Vorstellungen von anthropologischen Konstanten und Ontologisierungen dekonstruiert, indem sie auf ihre konkreten historisch-gesellschaftlichen Bedingungen zurückgeführt und als Effekte eines Macht-Wissenskomplex analysiert werden. Diese "Kritik der Ontologie der Gegenwart", wie sie Bublitz - im Anschluß an Foucault, aber auch Thomas Schäfer und Thomas Lemke - bezeichnet, ist nun alles andere als eine Entmündigung des Subjekts, wie etwa Wehler behauptet.

In meiner Leseweise von Foucault und Bublitz eröffnet die Infragestellung der Idee des autonomen Subjekts durch die Analyse der gesellschaftlich entwickelten Subjektivierungstechnologien vielmehr die Chance, weite Bereiche dessen, was als ureigenstes und unhintergehbares Selbst gedacht und gefühlt wird, in seiner gesellschaftlichen Bedingtheit zu erkennen und zur Disposition zu stellen.

Foucaults Arbeiten zur "Geschichte der Gegenwart", welche durch die Stichworte "Normalisierungsgesellschaft" und "Bio-Macht" umrissen werden können, sind in der Soziologie bislang kaum rezipiert worden, obgleich sie m. E. wichtige Impulse für die Analyse moderner Gesellschaften gegeben können, wie Bublitz eindrucksvoll belegt. So wird die Subjektivierung der Menschen in modernen Gesellschaften ebenso auf die Genese der Humanwissenschaften bezogen wie auch auf die Formierung der Disziplinartechnologien. Dabei werden die Verflechtungen der Subjektivierungs- und Objektivierungsprozesse charakterisiert, durch welche das Subjekt in seiner Eigenschaft als Subjekt Objekt des Wissens werden kann. Als "Wissensbegehren moderner Gesellschaften" wird hier die an die christliche Pastoralmacht anschließende Form der Selbsttechnologie charakterisiert, in welcher die Individuen dazu angehalten würden, das zu erkennen, was die verborgensten und individuellsten Momente ihrer Subjektivität ausmache. Mit dem angedeuteten Selbstbezug verknüpft thematisiert Bublitz die Disziplinarmacht moderner Gesellschaften und betont deren produktiven Charakter, wenn sie ausführt: "Der Geburtsort des modernen Subjekts ist diese Konstituierung des Subjekts durch Technologien der Disziplinarmacht, die zu inneren Technologien des Individuums werden". Die Auswirkungen normierender und normalisierender Technologien bezieht Bublitz nun nicht allein auf die Individuen, sondern auch auf die Gesellschaft. Hier werden die interdiskursiven Verfahren und Modi der Wissensproduktion expliziert, "die sich am Begriff der Normativität im Sinne einer das individuelle und das Bevölkerungssubjekt vereinheitlichenden und fragmentierenden Normalität orientieren".

Resümierend läßt sich festhalten, daß es sich um eine spannende Arbeit handelt, in der Foucault in einer für die Bildung von Gesellschaftstheorie gewinnenden Weise interpretiert und mit rezenten soziologischer Theorien - in erster Linie Bourdieu, aber auch Luhmann - eng verknüpft wird. Diese Verknüpfung ist für mich faszinierend, doch auch irritierend. Bisweilen hätte ich mir gewünscht, daß in Abweichung von Foucaults Ansicht über den Autor die jeweilige Autorenschaft deutlicher markiert worden wäre. In Hinsicht auf die historische Bedingtheit moderner Gesellschaften dagegen habe ich eine stärkere Orientierung an Foucault im Sinne einer umfangreicheren Einbeziehung historischer Quellen vermißt. Doch hier handelt es sich um meine persönliche Sichtweise, nicht um eine Ansicht mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit, dessen Rekonstruktion und Dekonstruktion Bublitz anvisiert, wenn sie über die Archäologie des kulturellen Unbewußten sagt: "Ihr Paradigma ist das Denken der Differenz, nicht, um es in einer Identität zu vereinheitlichen, sondern um es in seiner Singularität und Heterogenität zu belassen".

Titelbild

Hannelore Bublitz: Foucaults Archäologie des kulturellen Unbewußten. Zum Wissensarchiv und Wissensbegehren moderner Gesellschaften.
Campus Verlag, Frankfurt 1999.
327 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 359336218X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch