Es ist schön, an Orpheus zu denken

Gottfried Benn in Briefen und Werken

Von Helge SchmidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helge Schmid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was bedeutet das Altern dem Künstler? Als Gottfried Benn im August 1954 Ursula Ziebarth kennenlernte, war er ein alter Mann, 68 Jahre alt, um genau zu sein. Zwei Jahre hatte er noch zu leben, als er sich für die damals 33-jährige Frau zu interessieren begann, sie in Worpswede besuchte und wohl mehr als nur eine "Blaue Stunde" mit ihr verbrachte. "Der Vertrag ist geschlossen", schrieb er Ziebarth am 17. August 1954: "Wie er sich auswirken wird, weiss ich im Augenblick nicht. Aber er besteht."

Die ersten Nachkriegsjahre waren schwierig für Benn. Er wollte sich nicht rechtfertigen müssen für seine Haltung zum Nationalsozialismus und hielt sich in der Öffentlichkeit bedeckt, arbeitete jedoch wieder als Arzt wie als Schriftsteller, seiner "inneren ästhetischen und moralischen Lage" gemäß, und freute sich über Verlagsavancen aus dem süd- und norddeutschen Raum (Schifferli, Claassen, Rowohlt). Der "Vollender des Expressionismus" (Frank Maraun) erhielt nach zwölf Jahren des Schweigens, nach Nazizeit und Publikationsverbot, plötzlich wieder Würdigungen, erst in der "Neuen Rundschau" (Stockholm 1947), dann in der Zürcher "Weltwoche". Ein Publikum fragte nach seinen Texten und 1948 führte ein Angebot des Arche-Verlegers Peter Schifferli zur Publikation der "Statischen Gedichte". Und der ehemals unerwünschte Autor, nun von Kritikern wie Friedrich Sieburg gefeiert, erlebte mit seinem deutschen Verlag, Limes in Wiesbaden, ein "grandioses come back" (Max Niedermayer).

Nach dem Selbstmord seiner zweiten Ehefrau Herta kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatte Benn im Dezember 1946 zum dritten Mal geheiratet. Die Zahnärztin Ilse Kaul, damals 33 Jahre alt und "fast zu jung" für Benn, verlegte ihre Praxisräume in dasselbe Haus, in dem auch Benn wohnte und arbeitete. Ihre Praxis ging gut, seine schlecht, aber dafür hielten ihn andere Verpflichtungen in Atem. 1951 wurde in Wiesbaden groß der 65. Geburtstag ausgerichtet, im gleichen Jahr hielt Benn im Auditorium maximum der Philipps-Universität Marburg, wo er als 17-Jähriger sein Studium aufgenommen hatte, seinen berühmten Vortrag "Probleme der Lyrik", anschließend konzipierte er seine Darmstädter Büchnerpreis-Rede und kollationierte seine Essays für einen Auswahlband bei Limes. Er galt als einer der "glanzvollsten" Essayisten seiner Zeit, von allen Seiten kamen Anfragen, die er gewissenhaft beantwortete, und Aufforderungen, öffentlich zu lesen, denen er gelegentlich nachkam, es aber meist bereuend: "Mich erschöpft sowas über alle Massen, ich bin völlig zerrüttet nach Hause gekommen", schrieb er im März 1954 an Thea Sternheim. Noch nie sei er so viel "photographiert, gezeichnet u. interviewt worden, wie die 2 Tage in München."

Von seinen Frauen kam Ursula Ziebarth in der Benn-Forschung bislang so gut wie nicht vor. Kennengelernt haben sich beide Anfang August 1954, als Ziebarth Benn zu einer Lesung nach Bremen einlud: "Benn hatte meinen Anruf freundlich entgegengenommen, allerdings mehr nach mir als nach Bremen gefragt, er wollte wissen, wer da mit ihm spricht." Am 6. August 1954 trafen sich beide im Restaurant Fournes am Innsbrucker Platz in Berlin. Benn bewunderte an Ursula Ziebarth den "sprudelnden Elan" und jugendlichen Charme. Auch die heute Achtzigjährige scheint sich davon noch einiges bewahrt zu haben.

Über vierzig Jahre nach Benns Tod hat Ursula Ziebarth nun die Briefe kommentiert, die ihr Benn zwischen August 1954 und Juni 1956 geschrieben hat. Ihre eigenen Briefe sind größtenteils verlorengegangen, wenn nicht Benns eifersüchtige Witwe Ilse selbst Hand angelegt hat. Auch sonst ist die Edition so ungleichgewichtig, wie das Verhältnis Benn - Ziebarth seinerzeit gewesen sein muss: Den Löwenanteil der Kommentierung übernimmt Ziebarth, dabei nicht selten ins Erzählen kommend und so manches Entbehrliche einflechtend, während Jochen Meyer, der Leiter der Marbacher Handschriftenabteilung, ebenso notwendige wie knappe Ergänzungen vornimmt.

Ursula Ziebarth, gebürtige Berlinerin und 1921 geboren, studierte zwischen 1940 und 1945 in Berlin, Heidelberg, Straßburg und wieder Berlin Geschichte, Kunstgeschichte und Germanistik. Ende 1947, Anfang 1948 übersiedelte sie nach Worpswede. Im Mai 1955 fand sie, vermittelt durch Benn, eine Anstellung als Lektorin im Kölner Winkler Verlag, die sie jedoch gleich wieder aufkündigte. Von 1955 bis 1986 arbeitete sie beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin. 1949 veröffentlichte sie ein Gedicht in der Zeitschrift "Merian", 1955 eine Erzählung in den "Akzenten", 1976 ein Buch bei Neske, "Hexenspeise" mit einem Benn-Kapitel ("Es ist schön, an Orpheus zu denken"), 1979 bei Piper "Ein Kinderspiel", 1991 bei S. Fischer "Eine Frau aus Gold".

Die junge Frau gibt für Benn sehr viel mehr auf als er für sie: Mit ihrem Freund Walter Niemann macht sie kurzerhand "klar Schiff", während Benn die Beziehung zu seinem "Urle", "Urselchen", seinem "liebsten Menschlein" oder "Pony" (und wie die Kosenamen noch lauten mögen) geheim hält. Er ist ein Versteckspieler und braucht "Vorwände" für seine Reisen zu ihr. Selbst sein Briefpartner F. W. Oelze wird eingespannt: "Richten Sie bitte Ihre Gedanken nicht in Richtung Erotik", schreibt er am 22. August 1954 an Oelze, "sondern in der Richtung, dass es einen sehr berührt, wenn man als alter Mann überhaupt noch auf ein inneres Entgegenkommen bei reizvollen jungen Frauen stösst, auf eine Berührung der Sphären, zu denen natürlich auch die Erotik gehört, die aber etwas ganz anderes bewirken und bedeuten, nämlich eine Art Bewegung affektiver Schichten, die einen für eine Weile fortführen von Erstarrung, Müdigkeit, Fettwerden, Ranzigwerden."

Umständlich ist der alte Mann, überängstlich, feige zumal, dabei eitel wie ein alter Pfau, ein Jäger, der seine Beute am liebsten wie eine Trophäe vor sich hertrüge. Schon nach vier Wochen kriselt es: Ziebarth fühlt sich einsam im fernen Worpswede, ihr erscheint alles unpassend - der Altersunterschied, die Lebensgewohnheiten, das soziale Gefälle. Benn hält sie hin, vertröstet sie auf später. Schickt ihr zugleich regelmäßig Briefe und Telegramme, oft mehrmals am Tag. Einmal parodiert Ziebarth ein Benn-Gedicht ("Reisen"), ein anderes Mal schickt er ihr zwei neue Gedichte ("Das sind doch Menschen", "Warum gabst du uns die tiefen Blicke") und behauptet: "Im 1. Gedicht [...] bist Du im 3. Vers gefühlt und angebetet drin".

Gleichwohl kann man nicht behaupten, dass der alte Hasenfuß zu ihr gestanden hätte. Im Umgang mit Ziebarth ist er oft genant, meist unsouverän, selten ehrlich. Er ist mehr auf seine Ruhe bedacht, auf seinen "inneren u. äusseren Frieden" als auf ihren Leumund. Sie hingegen, die genau weiß, was sie will, fühlt sich deklassiert und nicht für voll genommen. Eine Zukunft ist dieser Beziehung nicht gegönnt, zumal Benn schon den Krebs in sich trägt: Anfang Januar 1956 unterrichtet Benn sie von seinem "Zwölffingerdarmgeschwür" und von den sehr ungünstigen Blutbefunden. Am 16. Juni schreibt er ihr den letzten Brief.

Ohne Zorn blickt Ziebarth auf ihre Zeit mit Benn zurück, im Gegenteil: "Es ist schön, an Orpheus zu denken". Die ganze Anlage des Buchs, die partielle Geschwätzigkeit der Kommentierung, lässt natürlich die Frage nach der Diskretion aufkommen. Einerseits weiß Ziebarth Details aufzubieten, über die kein anderer Kommentar verfügen könnte, andererseits wäre hier manchmal weniger auch mehr gewesen. Die Beteiligten führen sich selber vor, und das hätte man ihnen auch ersparen können. Zu befürchten ist ferner, dass die Benn-Philologie jetzt gewisse Gedichte 'autobiographisch' lesen und die alte Dame einer Vivisektion unterziehen wird. Es hat schon seinen Sinn, dass Briefwechsel, wenn überhaupt, posthum ediert werden.

Die Frage der Verhältnismäßigkeit steht ebenfalls im Raum, wo teils aus dem Nachlass Textzeugen großer Dichter (wieder) erscheinen und zwar "unabhängig von der Qualität des zu edierenden Materials". Dazu gehören Benns "gelegentliche Äußerungen", die zwischen 1949 und 1956 in Verlagsanzeigen und Prospekten erscheinen konnten, von marginaler Bedeutung sind, gleichwohl aber von großem editorischen Aufwand begleitet werden; ferner diverse Fassungen von Nachdrucken oder Abschriften, die Eingriffe des Autors, seines Verlages oder eines Redakteurs vermuten lassen, sowie Varianten von Vorträgen, die Benn für neue Anlässe neu eingerichtet hat. Ein Beispiel dafür ist seine Rede "Altern als Problem für Künstler", im März 1954 vom Süddeutschen Rundfunk ausgestrahlt, dann gedruckt erschienen und im Herbst desselben Jahres erneut für den Funk eingerichtet - diesmal für Radio Bern. Auf hundert Kommentarseiten wird die Entstehung und Überlieferung dieses Vortrags minutiös dokumentiert, werden Literaturlisten und Lektürenotizen, Fassungen und Entwürfe aufgeboten. So ediert man Klassiker, so bietet man lückenlos die Textzeugen auf, mit Geduld und Sorgfalt, allein durch die Bedeutung des Autors gerechtfertigt, doch ist es naiv zu glauben, die hier - in Band VI/Prosa 4 - "gebotene Fassung" würde "dem vom Autor gewollten Text" entsprechen. Holger Hof, der Herausgeber, kann aus Drucken und Doppeldrucken, Lesarten und Abweichungen (orthographischer und interpunktierender Varianz) der Überlieferungsträger nicht auf den Willen und die Absicht des Autors kurzschließen. Seine Leistung ist zu würdigen, auch wenn in diesem Teilband der Werkausgabe nur wenige zentrale Texte der Benn'schen Ästhetik zu betreuen waren, darunter "Probleme der Lyrik" (1950/51 entstanden) und eben "Altern als Problem für Künstler". Von besonderem Reiz ist seine Erinnerung an Else Lasker-Schüler, "die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte". Sie lebte einen persönlichen Exhibitionismus, den Benn nie gewagt hätte.

Titelbild

Gottfried Benn: Hernach - Gottfried Benns Briefe an Ursula Ziebarth. Mit Nachschriften von Ursula Ziebarth.
Wallstein Verlag, Göttingen 2001.
504 Seiten, 30,70 EUR.
ISBN-10: 3892444889

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Titelbild

Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Band VI. Prosa 4.
Herausgegeben von Holger Hof.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2001.
752 Seiten, 40,10 EUR.
ISBN-10: 3608955631

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